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Erfahrungen an Juden besitzt, wohlbekannt, daß sie immer bereit sind, von irgendeiner neuen Methode der Vorbeugung oder Behandlung von Krankheiten Nutzen zu ziehen. Es gibt so gut wie gar keine Impfgegner unter ihnen, noch irgend welche andere Art von Aberglauben, die sie veranlassen könnte, den Impfungsversuchen der Sanitätsbehörden zu wiederstreben. Ferner ist die jüdische Geistlichkeit immer dafür, ärztliche Dinge den Ärzten zu überlassen, während christliche Geistliche oft unter ihren Anhängern dafür gewirkt haben, solche Dinge am besten der Vorsehung zu überlassen. Infolgedessen ist die jüdische Bevölkerung Östeurapas fast durchweg in der Mitte des 19. Jahrhunderts geimpft worden, während die übrige Bevölkerung dieser Länder selbst heute noch nicht völlig durchgeimpft ist. In der Tat sind, seit die Schutzimpfung in großem Maßstabe in Österreich, Ungarn, Deutschland und teilweise auch in Rußland eingeführt worden ist, Christen und Juden nur noch selten erkrankt. In Krakau und Lemberg ist nach Thon kaum irgend ein Unterschied zwischen Juden und Christen hierin, und in Wien sind nach Rosenfeld 1901—1903 weder Juden noch Christen an dieser Krankheit gestorben. In diesem Zusammenhang muß betont werden, daß die osteuropäischen Juden, so abergläubisch sie sonst zweifellos sind, doch an Infektion als die Ursache der Übertragung gewisser Krankheiten glauben. Da ich unter ihnen praktiziere, kann ich mit Bestimmtheit bezeugen, daß ich kaum jemals einen Juden traf, der nicht glaubte, daß eine Krankheit vom Kranken auf den Gesunden durch persönliche Berührung Auswurf, Wohnung und Nahrung übertragen werden könne, und der nicht willig den Ratschlägen des Arztes in diesen Dingen gefolgt wäre. Man kann nicht dasselbe von dem Durchschnitt der armen und unwissenden Bevölkerung Osteuropas, besonders den slavischen Bauern, sagen. Die russische Regierung ist in Zeiten von Epidemien stets hilflos bei dem Versuch, dem Fortschreiten der Seuche Einhalt zu tun. Es
ist selbstverständlich, daß die Juden, die in gesonderten Stadtteilen leben und den sanitären Anordnungen gehorchen, während einer Epidemie oft verschont bleiben können. Aber das kann in keiner Weise als Rasseneigenschaft betrachtet werden.
Tuberkulös e.
Eine Ausnahme scheint bei der Tuberkulose stattzufinden. Nach allen ätiologischen Faktoren dieser Krankheit zu urteilen, müßten die Juden häufiger unter ihr leiden, Die Hauptmasse der Juden sind Stadtarbeiter, die in den ältesten und schmutzigsten Stadtteilen in Armut und Elend leben. Physisch erscheinen sie schlecht genährt, blutarm und schwach. Ihre Brust ist oft eng, schmal und flach, die Rippen stark vorgetrieben, das Brustbein eingedrückt, die Schulterblätter flügeiförmig nach hintenr-ab stehend; sie bieten in der Tat alle Zeichen des w Habitus phthisicus."
Aber es ist eine der bemerkenswertesten demographischen Erscheinungen, daß überall, wo vergleichbare Daten über diesen Gegenstand gesammelt worden sind, die Tuberkulose bei den Juden weniger häufig Todesursache ist als bei den Andersgläubigen ihrer Umgebung. Im Jahre 1901 habe ich alles erhältliche Material über diese Frage gesammelt und veröffentlicht. (The relative infrequency of tuberkulosis amongJews, „AmericanMedicine". Nov. 2, 1901), Seitdem ist noch neues Material beigebracht worden, das meine Beobachtungen bestätigt. So finde ich aus der Statistik der Todesursachen von Krakau und Lemberg, die Thon in seinem Buch „Die Juden in Österreich" veröffentlicht, die folgenden Ergebnisse: In Lemberg, wo bei der Volkszählung von 1900 unter 159619 Einwohnern 44258 Juden gezählt wurden, betrug die durchschnittliche jährliche Zahl der Todesfälle an Tuberkulose während der 6 Jahre 1897—1902 135,6 Juden und 734,6 Christen. In Krakau, wo 25670 Juden unter einer Gesamtbevölkerung von 91653 Einwohnern lebten, war der jährliche Durchschnitt der Todesfälle an Tuber-