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der anderen Seite von Nachgiebigkeit, wenn man es nicht zu weit triebe. Man sieht, daß man sich seine Ansicht reservirt, ohne irgend eine Krastäußeruug oper THLügkeit als Partei. Nicht minder ist dies der Fall im -eben und im Hause. Man gewahrt hundertmal, daß die or- thodoresten Eltern ihre Kinder sich der jüdischen Satzung entfremden sehen, ohne daß sie mehr thun, als für sich selbst die Beobachtung jener zu reserviren. Man verträgt sich hierüber in den Familien stillschweigend und der Widerstand der älteren Mitglieder gegen die jüngeren ist selten ein starker. Die Abnahme dieses Widerstandes ist aber ein Motiv mehr, daß die Jugend in immer ausgedehnterem Maße nicht blos der jüdischen Satzung, sondern dem religiösen Leben überhaupt sich entfremdet.
Eben so wie auf dem politischen und socialen Gebiete lassen sich über diese Erscheinung, über das Verschwinden der religiösen Parteien sehr entgegengesetzte Ur- theile fällen. Denn wenn von der einen Seite gerade in der Religion seit uralter Zeit der Frieden als ein höchstes Moment betrachtet ward, so daß es sich bis zu dem Ausspruch steigerte: „Ephraim huldigt den Götzen, aber in Frieden, so laßt ihn", — wenn durch den Frieden der Ansichten die Gemeinden an anderweitigen Jnstitu- ten, der Wohlthätigkeit, des Unterrichts u. s. w. zu wachsen die Kräfte haben; wenn die Nichtverfolgung der Er- treme den Vortheil hat, Vieles zu erhalten, was noch lebenskräftig' wirkt, aber von der Parteiverblendung in ihrer Consequenzmacherei beseitigt oder gar unterdrückt wird; wenn überhaupt die Leidenschaft des religiösen Fanatismus, die in den Parteien nicht ausbleibt, die schrecklichste ihrer Art ist und die furchtbarsten Verwüstungen anzurichten vermag — so kann man andererseits geltend machen, daß, wie das Verschwinden jeder religiösen Parteiung auf einer Abschwächung der Lebenskraft beruhe, es nicht minder wiederum selbst eine solche Abschwächung bewirke; daß unter der Aegide dieses Friedens der religiöse Jndifferentismus, die Gleichgültigkeit gegen alle Ueberzeugung, die religiöse Lauheit in Gemeinde und Haus wachse und überall vorherrschend werde; daß ein solches Vertuschen der Gegensätze der geistigen Regsamkeit, der gründlichen Erforschung, der scharfsinnigen Untersuchung unendlichen Abbruch thue; daß so auch die schreiendsten Mißbräuche geduldet werden, und andrerseits dem Erschlaffen allen religiösen Lebens widerstandlos Thor und Thür geöffnet werden. Eine genaue Abwägung aller dieser Momente liegt heute nicht in un- rer Absicht, würde auch kaum zu einem Resultate füh
ren. Es läßt sich eben schwer darüber entscheiden, und Parteien werden nicht durch Vernunftgründe hervorgerufen, falls man sie wieder herbeiwünschen sollte. Nur das Eine wollen wir hier abermals betonen, wie lächeürch es ist, den ganzen Zustand der Dinge, mag man ihn beur- theilen wie man wolle, so wie den Entwickelungsgang, der zu ihm führte, einzelnen Männern, sogenannten Reformatoren zuzuschreiben, wie man vielmals und so auch neuerdings wieder zu thun versuchte, wenn man gewisse Persönlichkeiten zu verdächtigen wünscht. Nein! der gegenwärtige Stand im Judenthume, so wenig wie er von einzelnen Männern verhindert und aufgehalten werden konnte, eben so wenig ist er von einzelnen Personen her- vorgerusen und bewirkt; er ist vielmehr eine unumgängliche Folge sowohl der allgemeinen Entwickelung in der civilisirten Welt seit dem Anfang des vorigen Jahrhunderts, als auch der besondern in der Judenheit seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts; er ist in unbedingter Rothwendigkeit geworden seit dem Augenblick , wo die ersten Arthiebe gegen die Schranken fielen, welche in bürgerlicher und socialer Beziehung und im intellektuellen Momente die Juden von der übrigen Welt abmauerten.
Wir verläugnen es uns selbst nicht, die jüdische Welt hat in den letzten zwei Jahrzehenden in so fern eine verderbliche Richtung genommen, daß fie in ungewöhnlichem Maße der Frivolität sich zugeneigt hat. Diese bekundet sich nach zweien Seiten hin: statt der strengen Sitte der Väter hat sich die Jugend der Unsittlichkeit, der ausschweifenden Lebensart vielfach ergeben, und statt der Einfachheit, Bescheidenheit und Zurückgezogenheit, welche einst die rühmlichen Tugenden der Väter gewesen, ist unverhältnißmäßig die Sucht, zu glänzen und der Luxus eingezogen. Wenn die jüdische Jugend in ersterer Beziehung fich nur aus das Niveau der nichtjüdischen gestellt hat, so ist dagegen die zweite Untugend bei uns unverhältnißmäßig gewachsen. Die Worte, welche der Prophet Jeschajah schon hiergegen schleudert, hätten in unsrer Zeit wieder ihre volle, gewichtige Anwendung. Wir haben dieses Moment nicht übergangen, weil es uns tiefer Ernst um die Besserung und Hebung innerhalb unsrer Glaubensgenossenschaft ist, und weil es um so mehr zu der Frage leitet, was unter dem Gewicht jener eben gezeichneten Erscheinung auf dem Gebiete des Judenthums zu thun sei? Wir haben hierauf nur dieselbe Antwort, wie in dem vorigen Artikel. Wo die Parteien verschwunden find, da tritt das Individuum, da