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haben ihn offen bekannt. Die Brandreden eines Henriei, Försters, Pickenbach u. A. haben dies rundweg ausgesprochen. Aber noch ein anderes Moment unterscheidet die Conservativen und die Antisemiten. Die letzteren fragen nicht nach der politischen, sozialen und religiösen Gesinnung dessen, der sich ihnen anschließen will. Ohne alle solche Unterschiede nehmen sie in ihre Reihen auf, wer sich ihnen zugesellt, selbst judengehässige Juden — während sie die getauften Juden mit demselben Hasse verfolgen. Wie viele Mühe haben sich die Antisemiten gegeben, um die Sozialisten in ihre Reihen zu ziehen! Sind nun die Conservativen auch geneigt, jedwedes Werkzeug zu benutzen, so werden sie doch niemals Leute in ihre Partei aufnehmen, die sich nicht zu ihren Grundsätzen bekennen. Der Judenhaß ist eine uralte Pflanze, die ihre Zeit des Blühens, des Früchtetragens und des winterlichen Stillstandes hat, immer aber besteht und in ihrem Innern immer wieder frische Säfte hegt, die sie aus dem Boden der! geschichtlichen Verhältnisse zieht. Der Antisemitismus ist' aber insofern ein Produkt der neuesten Zeit, als er seit 1880 als eine organisirte Partei auftritt, welche offen als ihr Ziel die Verfolgung der Juden bekennt und keine Mittel zu scheuen verkündigt, um diese Verfolgung ins Werk zu setzen. Man konnte deshalb voraussetzen, daß die Conservativen, ohne sich dem Antisemitismus anzuschließen, denselben doch in ihren Dienst nehmen, ihn möglichst fördern und unterstützen werden. Hierzu kam, daß innerlich beide Parteien in dem Haß gegen den Liberalismus übereinstimmten, und daß deshalb die Conservativen sich der Hoffnung Hingaben, in den sich immer wiederholenden Wahlkämpfen durch die Antisemiten eine bedeutende Zahl Wähler aus dem Volke zu erlangen, indem sie voraussetzten, daß in diesen Wählern der Judenhaß die politische Meinung überwinden werde. Sie gingen deshalb sogar so weit, entschiedene Antisemitenagitatoren in Wahlkreisen als ihre Candidaten aufzustellen, in welchen sie das antisemitische Element recht stark vertreten glaubten. Alles! dies erwies sich als Täuschung und die nach einander auf- 1 gestellten Liebermann, Stöcker, Wagner, Cremer und Consorten! fielen in der Haupt- und Residenzstadt durch. Nach diesen! Erfahrungen sahen sich die Conservativen bewogen, die Anti- semiten fallen zu lassen, ihre Geldunterstützungen zurückzuhalten und ihrerseits keinen Antisemiten als Candidaten auf- zustellen. Da nun überhaupt die Partei der letzteren beim allgemeinen Publikum in Mißachtung gerathen ist, theils weil jede Partei, die keine greifbaren Erfolge erlangt, dem Miß- credit verfällt, theils weil viele der Antisemitenführer durch Processe und strafrichterliche Erkenntnisse eompromittirt und als unmoralische Subjekte erkannt wurden: so hat sie wohl, die Unterstützung der Conservativen entbehrend, ihre Rolle ziemlich ausgespielt. Ihre Versammlungen haben fast aufgehört, ihre Preßorgane sind fast alle eingegangen und ihre
Literatur wird immer schwächer. Dies ist die gegenwärtige Lage. Selbstverständlich können wir hiermit nicht vermeinen, daß die Feindseligkeit gegen uns Juden sich vermindert habe. Nur die offenbare Agitation und Wühlerei ist zurückgewichen. Die judengehässige Gesinnung ist geblieben, und darin hat der Antisemitismus Erfolg gehabt, daß er diese Gesinnung von Neuem angefacht, verbreitet und gestärkt hat. Es wird eine lange Zeit und günstige Ereignisse und Verhältnisse erfordern, ehe wir wieder selbst nur zu dem früheren Zustande in dieser Beziehung zurückkommen. Diese Gesinnung wird aber nicht blos in der conservativen Partei, zu deren Credo sie gehört, verbleiben; sie besteht in allen Parteien, und namentlich in der radikalen, wie sich dies besonders in Ungarn und Frankreich erweist. Wir stehen nun einmal in einer Periode, wo der Parteigeist in allen Schichten des Volkes und in allen Ländern zu so stürmischer Leidenschaft herangewachsen, daß nicht blos Alles in Parteien und Fractionen sich spaltet, einander bekämpft und zu vernichten sucht, sondern es auch fast keinen Grundsatz giebt, in welchem auch nur einige Parteien übereinstimmten und ihn festhielten. Alles nimmt einen individuellen Charakter an und huldigt dem Satze: „Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich!" Hiermit müssen wir rechnen und uns mit der Erfahrung beruhigen, daß gerade weil es so viele Parteien giebt, keine ihr Extrem ausführen, ja überhaupt ihr eigentliches Ziel erreichen kann, die anderen verhindern sie daran, und daß was gekommen, auch wieder vergeht, freilich nicht ohne die Spuren seiner schaffenden oder verwüstenden Kraft zu hinterlassen.
Einige Demerkungen über -en pcfltutisimts der Gegenwart.
n.
Wir lasen jüngst einen Bericht über einen Vortrag, welchen Prof. Di. Witte in der „philosophischen Gesellschaft" in Berlin gehalten. Der Redner fand im Pessimismus eine Eigenthümtichkeit des Menschengeistes. Die geistige Thätigkeit des Thieres schließe sich nur den physischen Reizen an und könne über die Reizsphäre nicht hinaus. Anders der Mensch, der sich von der letzteren loszulösen, in die Kritik einzutreten und sich seine Zustände bewußt zu machen vermöge. Wie dem auch sei, meinen wir, wird es immer auf die Grundoder zeitweilige Stimmung der Seele ankommen, welche Richtung diese Kritik, dieses Bewußtwerden der Zustände nehmen werde; es kommt darauf an, in welchem Spiegel unsre Seele das Bild reflectiren läßt; es kommt darauf an, ob sie die Dinge mit gesunden normalen Augen betrachtet und so die Formen und Farben, das Maß und die Beschaffenheit, das Schöne und Häßliche, das Gefällige und Mißliche an dem-