Allgemeine
Zeitung des Zudenthums.
Ein unparteiisches Organ für alles jüdische Interesse.
Diese Zeitung erscheint wöchentlich. Durch Buchhandel oder Post bezogen Preis vierteljährl. 3 M., direct v on d er Expedition in Leipzig unter Streifband 3,50 M.
Herausgegeben van
Rabbiner vr. Ludwig Philippson in Dann. Krpedition: Leipzig, Kospitakgraße 2.
In redactionellen Angelegenheiten wende man sich an vr. Philippson in Bonn direct, in allen übrigen an die Verlagshandlung. Beilagen (Gebühr 12 M.) find gleichfalls an letztere einzusenden.
53. Jahrgang.
Leipzig, den 5. Dezember 1889,
Nr. 49.
Inhalt. Leitende Artikel: Die Ethik des Judenthums. — Das Offieiercorps und die Juden. — Eine jüdische Taubstumm en-Austatt in Deutschland. — Literarischer Wochenbericht.— Zeitungsnachrichten: Deutschland: Berlin, Leipzig, $öüt, Dortmund, Aus Württemberg. — Oesterreich-Ungarn: Wien, Prag, Bon der Donau, S.-A.-Uihely. — Rumänien: Jassy. — Türkei: Konstantinopel. — Tunesien: Tunis. — Feuilleton: Grillparzer und die Inden. — Die Büste der Frau David Bischitz.
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Bonn, 1. December. j
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Die Ethik des Ludenthums.
Das Judenthum war von seinem Beginne an vorzugsweise eine ethische Religion und theilte diesen Charakter auch den beiden ihm entstammten positiven Religionen mit, so weit dogmatische Momente ihn nicht beschränkten oder zurückdrängten. Auf dem Grunde der Lehre von Gott als dem Schöpfer der Welt und dem Vergelter des Guten und Bösen und von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, bezeichnet die h. Schrift schon in ihrer ersten Erzählung den Menschen als „der Erkenntniß des Guten und Bösen" fähig und theilhaftig geworden, d. i. des Gewissens, welches zwischen gut und böse unterscheidet, erkennt also den Menschen als ein sittliches Wesen an. Dieses Gewissen regt sich denn auch schon bei den ersten Handlungen der Menschen. Den großen Naturerscheinungen wird ein sittliches Motiv zugeschrieben: die große Fluth geschieht wegen des allgemeinen Verderbnisses der Menschen, 2 ) der Untergang Sodom's und Gomorah's wegen der Schlechtigkeit ihrer Bewohners. In dem ersten und höchsten Acte der Gesetzgebung werden auf dem Fundament der Anerkennung und Anbetung des
1) i. Mos. 3, 8.
2) Das. 6, 5.
3) Das. 18, 20.
einzigen Gottes die großen sittlichen Grundgesetze proklamirt: die Heilighaltnng des Eides und des Ruhetages, die Ehrfurcht vor den Eltern, die Heilighaltnng des Lebens, der Ehe, des Eigeuthums, die Wahrhaftigkeit und die Unterdrückung aller bösen Begierden. Dieser Grundzug der sittlichen Bestimmung des Menschen und der sittlichen Pflichten als dem Willen, Gottes entsprechend und deren Erfüllung für den Menschen allein Segen bringt, geht durch das ganze Gesetz, wie wir hier nicht weiter anseinanderzusetzen haben. Die Entwickelung der sittlichen Lehre und ihrer Verwirklichung im socialen Leben und im Lebenswandel des Einzelnen, zunächst innerhalb des israelitischen Volkes, dann aber auch ( in den Verhältnissen aller Völker unter einander, geht dann in allen Phasen des biblischen Alterthums vor sich, insbesondere durch die Propheten, welche mit feurigen Zungen neben dem Kampfe gegen Vielgötterei und Götzenthum auf ! strenge Sittlichkeit dringen und von dieser den Bestand und j das Glück der Völker abhängig erklären. Nicht minder wurde ^ in der talmudischen Periode der sittliche Charakter der Reli- ; gion festgehalten, ja das Gesetz der Sittlichkeit als so tief , im Herzen der Bekenner wurzelnd vorausgesetzt, daß man : derselben mannigfaltigen Ansdruck zu geben dem Midrasch j überließ, sie weniger in der Halacha zu formuliren für nöthig ! erachtete. Gleichen Schritt hielt der Rabbinismus, bis in unserer Zeit die sorgfältige Bearbeitung des Sittengesetzes wieder in den Vordergrund trat. Daß hier überall eine Entwickelung nach den Lebensbedingnngen und der Geistesrich- | tung der Zeit stattfand, erkennt man z. B. klar aus jenem I trefflichen mischnaischen Tractate „Sprüche der Väter," in
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