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wickelungsgange sich ebenfalls in den mannigfaltigen Wand­lungen der Zeiten verändern, neugestalten, bald erweitern, bald verengen, bald nieder-, bald aufsteigen. Wie dieses Volk aus dem Nomadenleben der Wüste in das Binnenland, in welchem allein die Landwirthschaft blühte, versetzt ward, wie es aus der Zerfahrenheit einer Föderativ-Republik von Stämmen zu einem geschlossenen Königthum sich wandelte, das die Schranken, die das Gesetz ihm stellte, durchbrach; wie sich da in ihm der Kampf zwischen der Gotteslehre und dem Heidenthum, zwischen der Uebung des Gesetzes und der Mißachtung desselben erhob; wie es in das Exil und dann ! nach Palästina zurück wanderte, unter der Herrschaft fremder Despotien anwuchs, zum Kampfe für den Bestand und die, Freiheit seiner Religion getrieben wurde; wie es so theils j im Lande der Väter, theils in sich immer erweiternder Dias- > pora lebte, bis es über die Erde zerstreut, unter die ver-! schiedensten Nationen gerieth und hier Jahrhunderte lang j Druck und Verfolgung erfuhr dieser gewaltige Wechsel! des Geschickes, der Zustände und Lebenserfordernisse mußte! auf seine ethischen Begriffe und seinen sittlichen Charakter j aufs Mannigfaltigste einwirken. Allerdings der Grundstock s der Lehre und der Ethik war im Judenthume von Beginn j

an so fest gegossen, daß er durch den Wechsel aller Zeiten j

derselbe geblieben. Dahin wirkte die tiefinnerste Ehrfurcht; vor der heiligen Urkunde, die durch alle Zeiten und Welt- gegenden in Scheu und Verehrung getragen wurde. Aber die Beleuchtung, die auf diese Grundsäule so verschieden fiel,

die Gewandung, die sich so mannigfaltig um sie legte, mußte

doch eine wechselnde Anschauung und Gestaltung herbeiführen. Somit ist es verständlich, daß die Ethik des Judenthums wissenschaftlich nur in einer Geschichte dieser Ethik darstell­bar ist. Wir haben deshalb zwei große Aufgaben noch vor uns: die Geschichte der Ethik und die Geschichte der Halacha. Denn auch die Geschichte der Halacha muß erst noch geschrieben werden, und zu ihr liegt ein ungeheures Material vor. Man kann sagen, daß die Entwickelung der Halacha sich in noch kräftigeren Vorstößen kundgab als die Ethik. Die Entfaltung des Gesetzes innerhalb der fünf Bücher j Moses, die Uebung des Gesetzes in der Zeit der Richter und! der Könige, so weit sie sich Nachweisen läßt, die Stellung der j Propheten zum Gesetze,') die Periode des Exils und der! ersten nachexilischen Zeit, bis die Uebung des Gesetzes durch s das nachdrückliche Einwirken Esra's und Nehemia's uner-! schütterliche Wurzeln im Herzen des Volkes faßte, und dann! die Entwickelung der Halachoth durch die achthundertjährige! Epoche der Tradition und traditionellen Auslegung, endlich ! der Abschluß, der durch den Rabbinismus bis zu den Codi-!

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l) Siehe unsere Abhandlung:Die Propheten und das mosaische! Gesetz" Jahrg. 1885, S. 729 ff. >

: fifationeit gegeben ward, alle diese Zeiträume bieten für die Geschichte der Halacha, dieses Wort im weitesten Sinne ge­nommen, eine Ueberfülle des Stoffes, der doch einmal der geschichtlichen Erkenntniß eröffnet werden muß. Man kann es nicht verhehlen, in den letzten Jahrzehnten hat sich auch für unsre Geschickte in allen deren Zweigen ein Detailbetrieb, wenn wir so sagen dürfen, eingestellt, der sich bald auf wich­tigere, bald auf sehr minutiöse Einzelheiten wirft. Es steht dies im Zusammenhang mit der Sucht unserer Zeit, die Frucht der Arbeit alsbald genießen zu wollen. Jene beiden großen Aufgaben aber, die sich als ein Bedürfniß Herausstellen, ohne welche die wissenschaftliche Erkenntniß des Judenthums keine wahren Fortschritte machen kann, bedürfen einer Kraft und Ausdauer, die nicht ansteht, einer derselben, ja selbst einem Theile ein ganzes Leben zu widmen. Wir können deshalb nur mit dem Wunsche schließen, daß unter den Jüngern der jüdischen Wissenschaft sich Männer finden mögen, welche in ihrer Begeisterung und ihrem Eifer für diese den Muth fassen, ihre Forschung einer dieser großen Ausgaben zuzu­wenden. Da es jetzt wieder so viele Rabbinatssitze giebt, welche neben genügendem Auskommen auch vielfach Muße genug gewähren, so können wir hoffen, daß mit der Zeit diesen Wünschen ein Genüge geschehen werde.

Man wird einwenden, daß durch eine solche geschichtliche Darstellung gemäß der großen Phasen des Judenthums die Gesammtauffaffung gestört und zurückgehalten werde. Dies ist aber nicht richtig. Denn, abgesehen davon, daß wir es hier nur mit einer wissenschaftticheu Bearbeitung zu thun haben, wird gerade auf diesen! Wege sowohl dieContinuität als auch die Einheitlichkeit des Judenthums in das vollste Licht gebracht und endlich wird zum Schlüsse einer solchen Arbeit ein abschließendes Gesammtbild entworfen werden müssen, in welchem alle Züge des Entwickelungsganges noch einmal zum Verständniß kommen.

Das Offieiercorps und die Inden.

Es ist allbekannt, daß im österreichischen Heere, seit­dem Joseph II. auch den Juden die Wehlpflicht aufertegt hatte, nicht wenige Juden zu Officieren, auch höheren Ranges, avancirt sind. In der italienischen Armee ist dies seit der Einigung Italiens ebenfalls der Fall. Ganz besonders aber ist es die französische Armee, welche eine Zahl von Officieren jüdischer Religion hat, die über das numerische Verhältniß der jüdischen Bevölkerung in Frankreich hinaus geht, uno es finden sich unter ihnen in der Landarmee und der Marine solche, die bis zum Range des Generals, des Obersten, des Oberstlieutenants u. s. w. gestiegen sind. So ist z. B. der General Lambert eine längere Zeit Oberst-

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