Deutschland.

Berlin, 22. Nov. (Privatmitth.) Bei den Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung hat also der Antisemitis­mus eine entschiedene Niederlage erlitten. Trotz der Ver­bindung der Konservativen nnd Nationalliberalen mit den Antisemiten (Bürgerverein) haben sie selbst die Sitze verloren, die sie bis jetzt immer gehabt. Selbstverständlich schieben sich die drei Parteien die Ursache auf den Hals; die Antisemiten beschuldigen das Kartell, die Konservativen die Nationallibe­ralen und die letzteren die beiden andern. Dabei ist zu be- merken, daß die für die drei verbundenen Parteien abgege­bene Stimmenzahl gegen die letzten Wahlen einen be- derrtenden Rückgang zeigen. Ob diese Erfahrung bei den bevorstehenden Reichstagswahten eine Berücksichtigung finden werde, ist sehr zweifelhaft. Einzeln sind diese drei Parteien in Berlin äußerst gering vertreten, so daß, wenn sie getrennt marschiren, sie ihre Schwäche um so mehr bekunden würden; nur in ihrer Vereinigung vermögen sie wenigstens den Schein zu retten. Zu gleicher Zeit haben die Antisemiten selbst in Leipzig eine empfindliche Niederlage erlitten. Ob sie nun dort einen größeren Anhang zählen oder ob die Führer, die nach parlanientarischer Stellung dürsten, zum va banque gegriffen, sie stellten den Konservativen und Natio- nalliberalen die Bedingung,einige reine Antisemiten" als gemeinschaftliche Candidaten aufzustellen, wo nicht, würden sie eigene Candidaten wählen. Sie wurden aber sowohl von den Konservativen als von den Nationalliberalen zurück­gewiesen. Diese wollen ihre bisherigen Candidaten nicht auf­geben. So sind die Antisemiten in den Winkel geschoben. Auf die Gesinnung der sächsischen Konservativen und Na- tionatliberalen ist hierbei kein Schluß zu ziehen, denn es gilt bei ihnen allen lediglich die Personenfrage.

Auch in der ersten Abtheilung wurden nur Liberale gewählt.

Berlin, 24. Nov. Lehrreichen Aufschluß darüber, in welchen Schichten der Bevölkerung der Reichshauptstadt der Antisemitismus seinen Sitz hat, giebt eine Tabelle über die Abstimmung bei der Stadtverordnetenwahl der III. Abthei­lung im siebenten Bezirk, wo gegen Birchow ein Dr. Bach­ter, der Redakteur der antisemitischenStaatsbürgerzeitung" aufgestellt war, eine Persönlichkeit, für die Stöckerlinge und Böckelinge mir gleichem Eifer ins Zeug gingen. Von Hand­werkern stimmten die Wahl ist bekanntlich öffentlich für Virchow 420, für Pachter 57, von Kaufleuten für B. 1dl, für B. 49, dagegen von königlichen Beamten 4 für V.

und 77 für den Antisemiten, für diesen auch sämmtliche Offi^ ziere, 19 an der Zahl.

Berlin, 25. Nov. Der Böckel'sche Deutsche Reformver- ein war auch am Freitag Abend wieder versammelt. I)r. Böckel sprach in längerer Rede überAntisemitismus und Sozialdemokratie." Er führte nach derPost" aus, daß sehr wohl bei einer geschickten Leitung die nationale Richtung die internationale verdrängen könne. Aber nicht der Antisemitis­mus derKreuz-Ztg." und anderer konservativer Blätter könne zum Ziele führen, sondern nur der reine, von jeder andern Partei losgelöste. (Beifall.) Die antisemitische Volks­partei lasse bei den nächsten Reichstagswahlen erst einmal mit der Kartellherrlichkeit gründlich aufräumen, sie lasse zu­nächst die Geheimräthe wieder verschwinden. Seien diese erst glücklich verschwunden, dann würden die Antisemiten die Bewegung wieder aufnehmen, aber nicht mehr mit anderen Parteien verquickt, sondern als eigene selbständige Bolks- partei. Die antisemitische Volkspartei werde sich dann in Berlin nach Art der sozialdemokratischen organisiren, d. h. auf der Grundlage der Gewerkschaften, sie werde auf dem­selben Gebiete und in derseblen Weise einsetzen wie die So­zialdemokratie, nämlich mit gewerkschaftlichen Abtheilungen nach Art der Fachvereine und gewerkschaftlichen Versamm­lungen. Mit diesem Vorgehen werde ohne Zweifel auch die Regierung einverstanden sein, und die antisemitische Volkspartei, deren praktische Erfolge gegen die Sozialdemo­kratie nicht ausbleiben könnten, werde ihr zehnmal lieber sein als alle faulen Köpfe vom Kartell. (Lebhafter Beifall.) Redner führt sein Thema im Einzelnen weiter aus, empfahl dem sozialdemokratischenBoykott" gegenüber kein Lokal mehr zu besuchen, wo dasBerl. Volksbl." aufliege bezw. die antisemitischen Zeitungen nicht gehalten würden (stürmü scher Beifall) und kam zum Schluß nochmals auf das Zu­kunftsbild und den Zukunstsplan der antisemitischen Bewe­gung zurück.Nur eine solche politisch-gewerkschaftliche Be­wegung", so schloß derselbe,ist der Weg, auf dem wir un- serm Kaiser wieder eine nationale Residenz verschaffen können. Die Regierung wird uns darin beistimmen, denn sie weiß, daß wir ruhige Leute sind." (Slürmischer, lange andauernder Beifall.)

(Man sieht, Herr Böckel will an Stelle Stöckers sich einen Anhang schaffen. Wie muß es in den Köpfen derer aussehen, die an solchem Wirrwarr, wie der obige, Gefallen finden!)

Leipzig , 19. November. Die nationalliberale Partei­leitung Sachsens hat ebenso wie der Vorstand des conser-