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Unsere Feste.

Von Dr. M. Levin.

Feste einer Gesammtheit sind gemeinhin Gedenkmünzen des Volks- geistes und Volkslebens. Je mehr sie die engen Grenzen des Nationaleil überschreiten und sich zum allgemein Mellschlichen erweitern, desto nlehr erlangen sie auch einen religiösen Charakter; aus Tagen des Volkes werdenTage des Herrn".

National silld Feste solange, als sie im Hinblick auf ein ge­schlossenes Volksthum gefeiert werden, als ihre Bedelltung ansschließ- lich denl feierllden Volke verbleibt. Das ist bei unserell Festen llicht der Fall. Wir haben kein geschlossenes Bolksthnnl mehr und denken auch nicht mehr an seine Wiederherstellung. Unsere Feste bilden blos eine Erinnerungsfeier geschichtlicher Ereignisse und nationalen Lebens, aber sie sind keine nationalen Festtage. Die drei Feste Pessach, Schabnoth, Sukkoth, all welchen einft alles Volk nach Jerusalem zllm Telnpe! des Ewigen wallsahrtete, gellen geschichtlichen Erinnerungen: der Befreiung ans Aegypten, der Bundesschließung anl Sinai, der vierzigjährigen Wüstenwanderung. Heben wir aus diesen national- geschichtlichen Erinnerungen die allgemeinen Gedanken heraus, so erweitert sich lllls das Vefreiungsfest Israels zu einem Fest der Freiheit, das Bilndesfest am Sinai zu einer Feier des göttlichen Geistes, der sich im Menschen offenbart, das Hüttenfest 31t einem Dantsest für den Schutz imb Schirm, den der Herr auf der Wan- derlmg durchs Leben Jedenl angedeihen läsit. Und weiter, nicht blos geschichtlichen Erinnerungen silld diese Feste geweiht, sie haben auch eine Beziehung zum Naturleben, sie sind auch das Frühlings-, Solumer- und Herbstsest, allerdings in Beziehung 311 dem Natur- Ieben im heiligen Lande, wo andere Erntezeiten stattfinden; immerhin feiern diese Feste, lvie einerseits das Watten Gottes in der Menschen- welt, so andererseits das Walten Gottes in der Natur; mit einem Worte, sie silldTage des Herrn" und llicht blos Tage eilles sich abschließenden Volkes.

Wahrend die drei Wallfahrtsfeste geschichtlichen Erimlerungen geweiht sind nnd ail das Naturleben onknüpfen, sind zwei Feste des Tischrimonats Feste der Seele. Ihr großer Inhalt drängte die Alten, schon einen ganzen Neonat vorher sich auf diese Tage vorzubereiten. Ter Neonat Etllt galt ihnen als Rüstzeit; namentlich verpflichtete mau die Gemeinde- und Kultusvorsteher zur Einkehr, man empfahl ihnen, den Worten Gehör 311 leihen, diedas Gemüth erregen"; all jedem Morgen ertönte der Schosar,11m das Volk zn erwecken uild znr Rückkehr anzusporuen", dem Ausspruche gemäß:Heil der Ge- lneiilde, die der Posaune Rllf versteht, im Lichte Gottes zu wandeln". Tie Tage des Mol,als Elnl galten alsTage von der Sonne der göttlichen Gnade beschieilen". Man wies aus Mose, der 31t Anfang des Monats Elnl znnl zweiten Mal den Sinai bestieg, nachdem er bei der Versündigung des Volkes durch die Anbetullg des goldenen Kalbes die Bnndestaseln zerschlagen; nad) vierzig Tagen, am 10 . Tischri, am Versöhnungstage habe er die neuen Bundestafeln gebracht.

Ganz besollders waren die zehn Tage des Tischri der Vor­bereitung ans den heiligsten Tag des Jahres gewidmet, da sollte des Propheten Mahnung beherzigt werden:Wachet auf, reiniget euch, schasset das Böse fort, lasset vom Bösen ab, lernet Gutes thml, forschet iiacl) Recht, steht dein Unterdrückten bei, richtet die Waisen auf, nehmt euch der Wittwen au." Ter Monat Elnl unb diezehn Bußtage" des Tischri sind Vorbereitungstage ans den Jom Kippur. Er erfordert eine lange Rüstzeit. um ihn würdig begehen zu könileu als einen Tag, der die Menschen in möglichster Vollendung zeigt.

Fassen wir mm den ersten der zehn Bußtage ills Allge, der den Nanlen Kosch !m.-( üanail, Neu jahrssest, erhalten hat. Dieser Name !

ist nicht der ursprüngliche. Die mosaische Bestimmung kennt feinen anderen Jahresanfang als den, der mit dem Frnhlingsmonate Nissan beginnt, welcher Monat deshalb ausgezeichnet wurde, als der erste der Monde 31t gelten und von ihm ab die Feste zu zählen, weil in dessen Tagen Israel aus Aegypten zog und zu einem selbst­ständigen Volksleben erstand. Die Bedeutung des Neujahrsfestes ist nach der mosaischen Verordnung durch die Bezeichnung gegeben: Jom teniali, Tag des Posaunenschalls, und Sidiron teruali, Gedüchlniß(-tag) des Posauuenschalts.An Freudentagen, an Festen, all Neumonden werde in die Trompete gestoßen, bei den Ganzopfern und Opfermahlen, daß sie euch zur Erinnerung feien vor Gott."

Als erster des Mollais ist Rusch hasdmnali eine Neumonds­feier, danach ist sein Charakter bestimmt: er ist ein Freudentag, an welchem des Volkes beim Posaunenschall vor Gott gedacht wird. Noch zu Ansgang der biblischen Zeit herrscht diese Auffassung. Esra ruft der versammelten Volksmenge 31t:Dieser Tag ist heilig beut Herrn, betrübet euch nicht, sondern die Freude am Herrn sei eure Schutzwehr."

Wellli liull das Bewllßtsein, daß des Volkes vor Gott zmn Guten gedacht wird, eine freudige Stimmung erweckt, so mufcte doch hinwiederum im Volte die Mahnung sich regen, ob es des Gedacht­seins vor Gott auch würdig sei? All keinem Nennlondstage konnte diese Frage so sehr in das Volksgemüth sich drängen lvie am Neu- nlondstage des siebenten Monats, baut der Versöhnungstag war im Allzuge, und was liatürlicher, als daß diese Neumolldsfeier schon im Hinblick auf den herannahenden Versöhnnngstag begangen wurde! Tie Freude wurde zum Ernste abgedämpst, Ulan ging in sich, mnsterte seine Thaten und prüfte sein Inneres. Der Gedüchtnißtog des Posaunenschalls ward ein Jom liaddin, einGerichtstag", er eröffnete die zehntägige Lällternllgszeit, die mit dem Sühnetag den Abschluß salld. Ein neues Leben, eine neue Zeit begann. So erklärt es sich, daß der Gedüchtnißtag sich Zu einem Neujahrstag (rosch lmsclianali) entwickelt hat: ja, man gilig so weit, diesen Tag als den Welt­schöpfungstag (liarath olam) anznsehen, mit welchem die Zeit ihren Anfang nahm, imb wandte sich zu Gott, dem Schöpfer der Welt und Lenker der Zeiten, daß er seiner Geschöpfe in Liebe gedenke.

Die bedeutsamste religiöse Haildlnng an diesem Feste bildet in der Synagoge noch das Blasen des Schosar. Der Schosar erklang, als ain Sinai das Gotteswort offenbart wurde, der Schosar erklang im Sabbath- und Jobeljahr, auf daß der Sklave seine Freiheit, der Besitzlose sein Eigenthulll wieder empfing, der Schosar wird sinn­bildlich genommen für den Gottesrus, der einst die Völker zu dem Ewigen sammelt. Unter den Schofarklüngen soll Gott gehuldigt werdell als dem Herrn der Welt, dem Vater aller Menschen, vor dem Alle seine gleichberechtigten Kinder sind; unter Schofarklüngen soll Gott gedankt werden als der Vorsehung, die über der Gesammt- heit waltet und dem Einzelnen nahe ist in Gnade und Barm­herzigkeit; unter den Schofarklüngen soll Gott verehrt werden als Gesetzgeber mib Richter, der die Handlungen der freien Menschen in Gerechtigkeit richtet, aber auch seiner Liebe eingedenk ist. So ist das Neujahrsfest kein weltliches Neujahr, sondern gestaltet sich zn einem Neujahr des Seelenlebens, zu einem Fest der Erneuerung unserer geistigen und sittlichen Verfassung.

Mit einem richtenden Rückblick treten wir in den heiligsten Tag des Jahres ein. Wie die heilige Schrift kurzweg Bibel, d. h. Buch, genannt wird, so heißt das Versöhnungsfest schlichtweg Joma, der Tag. Die Bibel ist das Buch der Bücher, das Versohnungsfest der Tag der Tage, dervon ollen begnadete". Danach wäre die ver­söhnende Liebe der höchste Gedanke der Religion, Versöhnung zu