59. Jahrgang. Nr. 5.
Berlin, l. Februar 1895.
Allgemeine
eilung des Zudenthums.
Ern unparteiisches Organ für alles jüdische Interesse.
Diese Zeitung erscheint wöchentlich. Abonnements-Preis: Durch Buchbandel, Postoder direkt von der Expedition in Berlin unter Streifband bezogen Vierteljahr!. 3 M.
Red acte ur: Gustav Karpeles.
Begründet von
Rabbiner 8*. Ludwig Philippson-Sonn
Veriags-Crpedition: Berlin, Lerusaiemerstr. 48/49
Alle Zusendungen fiir Redaktion und Expedition sind au die Adresse: Verlag der „Allgem. Zeitung des Iudentl,ums". Berlin SW., Jerusalemer Straße -18/49 ;u richten.
Verlag von Rudolf Masse, Berlin.
Leitartikel: Die Anträge uns Verbot der Einwanderung der Inden. — Die Woche. — Die jüdischen Pairs in Oesterreick. Von Tr. S. R. Landau. — Briefe aus Paris. — Zur Geschickte der Kolonisation der Juden in Argentinien. Von Tr. N. I. Weitistein. — Aus Leopold Zunz' Leben. Von Dr. S. Mapbanm. — Ueber A. Bernstein. II. Von Karl Emil Franzos. — Feuilleton: Vorurtheile. Novelle von Hermann Menkes (Forts.). — Sprechsaal.
Der Gemeindebote. Korrespondenzen und Nachrichten: Berlin. Brakel. Aus der Provinz Posen. Breslau, Lubliniü, Hannover. Eisenack. Wien. Budapest. Riga. Chicago. — Von Nah und Fern. — Miseellen.
Nie Anträge
auf Verbot der Einwanderung der Juden.
Berlin, 30. Januar.
ls der russische Handelsvertrag zur Diskussion stand, verursachte eine Audienz, die drei Borstaudsmitglieder des Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens beim Staatssekretär von Marschall gehabt hatten, eine Debatte in der Kommission, die zur Berathung dieses Handelsvertrages eingesetzt war. Diese Debatte drehte sich nicht darum, ob die russischen Juden zuzulassen seien, denn alle Parteien waren darin einig, daß dies nicht wünschenswerth sei, sondern nur darum, ob die vorhandenen Gesetze allsreichten. Die Regierung behauptete dies, und die Parteien gestanden schließlich zu, daß schon jetzt die Regierung genügende Machtbefugliisse habe. Insoweit hat die Debatte einen Beweis dafür erbracht, daß die Anträge auf Einwanderlingsverbote gegen ausländische Inden überflüssig sind, aber dennoch können wir nur mit Beschämung daran denken. Bo» allen Seiten wurde behauptet, daß die russischen Juden schlechte Elemente wäre», daß sie in stärkerer Zahl einwandernd Deutschland demoralisiren würden, Treue mit» Glauben erschüttern müßten re. Auch außerhalb der Kommission fanden diese Airschauungen fast allgemein Geltung; sogenannte judeiifreundliche Blätter:, nationalliberale insbesondere, schriebe!:: Die deutschen Juden würden, wenn sie es könnten, ohne das Prinzip der Gleichberechtigung zu durchbrechen, gern de» ausländischen Juden den Eintritt nach D utschland verwehren, und fast keine Stimme erhob sich für die ausländischen Israeliten.
Es ist begreiflich, daß ein so genährtes Vorurtheil immer weitere Kreise ziehen muß, und nach den vielen trüben Erfahrungen, die >vir gerade in jüdischen Dingen machen, können wir die Unkenntniß über die Verhältnisse nun vollends der ausländischen Inden nicht arg genug schätzen. Freilich diejenigen, die so den Stab über Millionen Menschen brechen, kennen diese gar nicht.
Schon die Thatsache allein, daß dieselben Vorwürfe, die heute gegen die russischen oder polnischen Juden erhoben werden, mit derselben Berechtigung, oder besser gesagt und mit dem gleichen Mangel
an Berechtigung, gegen die Vorfahren der deutschen Inden vor kaum 2 oder 3 Generationen geltend gemacht wurden, sollte uns belehren, daß es sich um allgemeine antijüdische Vorurtheile handelt. Reben dieser allgemeinen Abneigung gegen die Juden kommt aber noch eine spezielle in Betracht, die durch Aeußerlichkeiten verursacht ist. Der Kaftan der russischen und polnischen Inden und ihr Jargon haben sicher viel mehr die Antipathie verursacht, die gegen sie herrscht, als ihre angeblichen schlechten Eigenschaften. Soweit, daß sie diese schlechten Eigenschaften Hütten prüfen können, haben es jene abfälligen Beurtheiler gar nicht kommen lassen, für sie genügte schon das Aeußere eines polnischen Juden, um ihn sich zehn Schritte vom Leibe zu halten.
Die Gegner jener Einwanderung glauben, der russische und polnische Jude werde, sobald er nach Deutschland komme, Handelsmann, er ist es für sie schon in Rußland, und als solcher wird er durch allerhand Mittel, Bankerotte re. schnell reich und beule die armen Deutschen ans. Wäre die Thatsache wahr, dann hatte in jenen Jahrzehnten, da die Einwanderung frei war, ein ganz anderes Zuströmen von jüdischen Massen staitgefunden, als dies der Fall war, aber auch die Voranssetznngen sind falsch. Der russische Jude ist in seiner Blasse nicht allein Kaufmann oder Handelsniann, sondern vielmehr Handarbeiter. Nicht weniger als 293,507 erwerbende Handwerker leben mir im Niederlassungsgebiet, ungerechnet die vielen anderen außerhalb desselben, ferner sehr zahlreiche Fabrikarbeiter, Kutscher, Dienstboten re., auch ea. 00,000 Seelen bereits ans den Ackerbankolonien. Deshalb wird der russische Jude, wenn er nach London oder Amerika kommt, jetzt auch nicht Handelsmann oder Kaufmann, sondern er erwirbt sich sein Brvd als Handwerker, wenn es auch noch so kümmerlich ist. Wir erinnern nur an die vielen Tarisende jüdischer Handwerker in Londons Eastcnd, an die Massen jüdischer Schneider, die dort den Konfektionssirmen die Möglichkeit geboten habe», mit den deutschen Fabrikanten zu kon- knrriren, wir erinnern an den im „Eonfectionär" gedruckten Bericht einer großen Exportfirma, die die Thatsache konstatirte, daß seit der Einwanderung der Massen jüdischer Handwerker nach New-Port die dortige Industrie Massenartikel selbst erzeugen kann, die sie früher von Deutschland beziehen mußte. So hat die Ansiveisung der Inden aus Rußland, die Nichtaufnahme dieser Flüchtlinge in Deutschland zur Folge gehabt, daß der Export Deutschlands nach England und Amerika um Millionen zurückgegangen ist und sich dort Industrien gebildet haben, die ohne den russisch-jüdischen Handwerker unmöglich wären.
Beweist aber diese Thatsache, daß der russische oder polnische Jude keineswegs nur Kaufmann ist, so kann mau dies auch in unseren Ostseeprovinzen sehen, wo die Zahl der russischen Juden