82. Jahrgang. Nr. 27

Berlin, 5. Juli 1918

Gm unparteiisches Organ für alles jüdische Interesse

Begründet von Rabbiner Vr. Ludwig Philippson

Unter Leitung des

Geheimen Reglerungrratr Proseflor vr. Ludwig Geiger

Verlag : RudoU Mossc, Berlin, Jerusalemer Strasse 46-49

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Wiederum Flüchtlinge. Von Elias Nacht, Berlin (z. Z. in Lembergs Die Woche. Coßmann Werner. Ein Gedenkblatt von Rabbiner Dr. Blumenthak (Berlin). Vegetarismus und Bibel. Von Dr. med. Ratner (Wiesbaden), z. Z. Kopenhagen, und Dr. Grünthäl (Charlottenburg). Treu und Glauben aus dem Boden der jüdischen Wohltätigkeit. Von Bureauvorsteher Nathan Cohn (Charlottenburg). Literarische Uebersicht. Von Ludwig Geiger. Feuilleton: Jedem das Eeinige. Roman von M. Pulvermann. Literarische Mitteilungen. Büchereinlauf.

Der Gemelndebote (Beilage zurAllgemeinen Zeitung des Judentums"). Berlin, Schrimm, Breslau, München, Hannover, Stuttgart, Stratzburg i.Els., Wien, Budapest, Warschau. Von Nah und Fern.

Wiederum Flüchtlinge.

Von Elias Nacht, Berlin (z. Z. in Lemberg).

. Machdruck erwünscht.)

erechtigkeit! nimm sie dir, sagt Maxim Gorki. Dies ist aber -heutzutage nicht nur undenkbar, sondern sogar unmöglich.

In meinem Aufsatze, in derAllgemeinen Zeitung des Judentums" vom 7. Juni 1918 besprach ich die Leiden der Flüchtlinge, die hier eine Ergänzung finden mögen, denn mich giftet die Interesselosigkeit und Gleichgültigkeit der jüdischen zuständigen Stellen.

Am Montag, den 17. d. M., haben zirka 5000 galizische Flüchtlinge die Hauptstadt der Monarchie verlassen, itrrt in ihre Heimat zurückzukehren. Von diesen 5000 Flüchtlingen waren zirka 2000 Kinder, ein Teil Greise und Gebrechliche, der Rest Frauen und Mädchen.

Ich hatte Gelegenheit, mir diesen Heimkehrtransport am Nordbahnhos anzusehen. Man hat ihnen 120 Wagen zur Ver­fügung gestellt. Diese Wagen find einem jeden bekannt; sie tragen die Aufschrift: 40 Mann oder 6 Pferde und 8 Mann.

Diese Menschen, die mit Beginn des Krieges ihre Heimat verlassen mußten, begaben sich nach Wien, um die Zeit, die sie fern von ihrer Scholle verweilen mußten, zu überleben; daß ihnen das Leben nicht leicht werden würde, wußten sie beim Verlassen ihrer Behausung sehr genau; denn überall ist es gut und in der Heimat am besten. Sie fügten sich ihrem Schicksal ohne zu murren, mit einer, dem Juden innewohnenden Ge­lassenheit. Dennoch glaubten sie nicht, daß man ihnen das neue Leben so schwer machen würde.

Sie haben es also in Wien nicht so rosig gehabt, wie man es eigentlich annehmen sollte und wie es ihnen zu gönnen war; denn Menschen, die ihre Heimat, ihr Hab und Gut, ihr alles verlassen müssen, um einen unfreiwilligen Aufenthalt in einem fremden Orte zu nehmen, gebührt, menschlicherweise, ein dem­entsprechender Aufenthalt. Aber, wer hat sich um diese Flüchtlinge" gekümmert? Niemand, absolut niemand. An­statt ihnen zu helfen, legte man ihnen Steine in den Weg. Wovon sollten diese Menschen in der Fremde ohne Beschäfti­gung, ohne Einkünfte leben? Etwas von der Unterstützung? Sie verfielen also dem Teufel, Handel genannt. Und dadurch nahm

der Haß, der gegen sie von dem Tage ihres Eintreffens in Wien an gesät wurde, immer größere und größere Dimensionen an. Mit ihrer Abreise erreichte er das Maximum.

Vier lange, leidenerfüllte Jahre verlebten sie in Wien, um eines unverhofften Tagesabgeschoben" zu werden. Derjenige, der nicht am Montag persönlich am Nordbahnhof anwesend war, kann sich kaum ein Bild ausmalen, wie diese Menschen aus Wien verabschiedet wurden. Am Sonntag hatten sie noch gar keine Ahnung, daß sie am Montag abfahren mußten, waren demnach für eine fünf bis sechstägige Reise nicht vorbereitet, und das Unglück wollte, daß gerade an diesem Montag die Brotration auf die Hälfte der schon knappen Ration herab­gesetzt wurde. Sie konnten also gar kein Brot erhalten, da sie zu Wien nicht mehr zählten und demnach auch die halbe Ration nicht empfangen durften. Da nahmen sie Zuflucht zu den Schleichhändlern; auch dieser Versuch schlug fehl, da die Schleichhändler trotz der undenkbar hohen Preise (20 bis 30 Kronen pro Brot), die die Flüchtlinge ihnen angeboten hatten, nicht verkaufen wollten. Warteten sie doch, durch die herab­gesetzte Brotration begünstigt, auf eine bessere Konjunktur. So mußten diese Aermsten ohne Nahrungsmittel zum Bahn­hof ziehen. Und am Bahnhof ach! wurden sie von den Be­amten mit Glacehandschuhen angefaßt. Stöße, Beschimpfun­gen, Flücke usw. kann man einem Juden ohne weiteres verab­folgen. Es ist eben nur ein Jüd und weiter nichts. Dann wurden sie in die Wagen gepfercht, mit ihrem Hausrat, dreckigem Gepäck und anderem mehr, das sie vor dem Feinde gerettet hatten. Sie füllten die Wagen, Trittbretter, Dächer. Ecken und Kanten des rollenden Dorfes. Allem haben sie sich aefügt, ohne ein Wort lautwerden zu lassen. So also verließen diese armseligen Menschen Wien, ohne eine Happen Brot ihr eigen zu nennen. Eine Reise von 5 bis 6 Tagen ohne Brot. Greise, Kinder, schwangere Frauen! Ach! Himmel, gibt es denn keine -Hilfe mehr ans dieser blutdurchtränkten Erde? Wer konnte sich den Zug. ohne einen Seufzer auszustoßen, ansehen?

Ein zweiter Fall, dem ich auch persönlich beigewohnt habe.

Vor wenigen Wochen erschien ein Gendarm in dem Dorfe. B. in Galizien, in dem ich mich befand, und benachrichtigte die dort untergebrachten Flüchtlinge, sie hätten sich am näch­sten Tage früh nach dem Bahnhof Eh. unweit Lemberg zu begeben, da sie in die Heimat zurückbefördert würden. Der Gendarm ordnete in der Gemeinde an, Fuhren für den Ab­transport zum Bahnhof bereitzustellen. Am besagten Tage früh erschien der Gendarm, wohlgemerkt mit Gewehr, und lud Menschen und Gepäck auf die Wagen, begleitete sie unter Eskorte wie Verbrecher zum Bahnhof. Das gleiche Verfahren im ganzen Bezirk. Sie wurden am Bahn­hof gesammelt. Es waren ihrer zirka 700 Seelen, wiederum viele Kinder, denn die galizische Menschenernte fällt ständig reichlich aus. Die Transportwagen aber waren noch gar nicht angekommen. Sie warteten und harrten ohne Nahrungs-