65. Jahrgang. Nr. 41.
Allgemeine
Berlin, 11. Oktober 1901.
eitung des Audenthums.
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ÄNhltü. Eine große Aufgabe — Die Woche. — Die Cenlenarfeier der Iacobsonschule. — Ein deutsches Gebetbuch für Frauen und Kinder. Von Dr. med. W. Feil cheicheld.Zeit- und Streitfragen. —L icht-und Schattenseiten. — Das Geheimniß der Odyssee. II. — Ephraim. Von Irene Ezer- balrni. II — Sprechsaal.
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Eine große Aufgabe.
Berlin, 8. Oktober.
,n Herbst, wenn draußen in der Natur die Blätter von den Bäumen fallen, sängt der Blätterwald der Litteratur gemeinhin zu rauschen an. Sogar in unserer Litteratur beginnt es sich um diese Zeit auch lebhafter zu regen. Allerdings, die Hoffnungen, die wir so oft schon ausgesprochen, sind bis jetzt noch unerfüllt geblieben. Die Werke, die geschrieben werden müssen, um den Verfall aufzuhalten oder das junge Geschlecht durch frischen Muth zu begeistern, sind noch immer nicht geschrieben, und wir haben leider auch nicht die geringste Aussicht, daß wir sie in absehbarer Zeit werden begrüßen können.
Doch das kann uns nicht abhalten, immer von Neuem wieder, und zwar gerade um diese Zeit, wo man sich zu frischer Arbeit rüstet und unter dem Eindruck der abgelaufenen Festzeit an die großen Aufgaben zu erinnern, die unserer Forscher und Schriftsteller warten.
Namentlich aber ist es eine Aufgabe, die Angesichts mannig- acher Zeiterscheinungen ganz besonders dringend und noth- vendig der Lösung entgegenharrt. Jeder Gebildete weiß, welch großes Aufsehen die Schrift von Harnack: „Ueber das Wesen des Christenthums" erregt hat. Neben dem Werke von Haeckel über die Lösung der Welträthsel ist es das geleseuste Buch dieses Jahres geworden. In kurzer Zeit sind mehrere große Auflagen erschienen, alle Zeitungen haben ausführliche und meist anerkennende Besprechungen gebracht. Man weiß, vie Harnack über das Jndenthum denkt, und wir haben erst Angst Gelegenheit gehabt, anläßlich seiner Rektoratsrede über die Ausgaben der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte, gegen ihn zu polemisiren. Es ist sehr bedauerlich, daß sich nicht sofort ein hervorragender jüdischer Theologe gefunden hat, der gegen die Anschauung und die Beurtheilung des Judenthums in Harnacks Werken die Polemik eröffnet und daneben dein berühmten evangelischen Theologen eine Reihe großer Jrrthümer nachgewiesen hat. Gerade in jüdischen Kreisen wird das Buch Harnacks viel
gelesen, und zwar in den Kreisen, die sich mit Vorliebe die feingebildeten nennen und dem Judenthum gegenüber eine -gewisse Vornehmthuerei an den Tag legen. Vielen jüdischen Studirenden ist Harnack die höchste theologische Autorität, und sie citiren unaufhörlich seine Anschauungen über Judenthum und Christenthum. Denen, welche auf der Brücke des Ueber- ganges stehen, bietet Harnacks Jdeengang nun gar willkommene Gelegenheit, um ihren Schritt durch die bekannte Phrase von der Minderwerthigkeit des Judenthums und von der höheren sittlichen Entwickelungsstufe des Christenthums zu motiviren.
Demgegenüber wäre, wie gesagt, eine sachgemäße, aus den Quellen geschöpfte theologische Gegenschrift von nicht geringer Bedeutung. Aber was noch viel wichtiger ist, das wäre eine positive Darstellung von dem Wesen des Judenthums. Wir haben bereits viele Ansätze zu einem solchen Werke, aber die Schrift selbst fehlt uns leider noch, und doch ist sie so wichtig, daß sie geschrieben werden muß.
Wer die vielen Vorurtheile kennt, die unter Nichtjuden, wie leider auch unter Juden, gegen das Judenthum herrschen, wer mit dem Inhalt der meisten Schriften über Theologie und Bibelkritik von evangelischer wie von katholischer Seite näher vertraut ist, der wird uns ohne Rückhalt zustimmen. Wem von uns ist es nicht schon Passirt, daß ihm von gebildeten Juden Fragen und Einwürfe entgegengestellt wurden, die die größte Unkenntniß über die Grnndlehren des Judenthums beweisen? An wen ist nicht schon anderseits der Wunsch nach einem Werke herangetretem auS dem man positive Belehrung über das Wesen und die Bedeutung des Judenthums sich holen könnte? Gerade in unserer Zeit, wo die wichtigsten religiösen Fragen auf der Tagesordnung stehen, und das Judenthum als solches alltäglich in Zeitungen und Zeitschriften angegriffen, geschmäht und herabgesetzt wird, ja selbst von Solchen, die als Sachkenner gelten wollen und auch gelten, falsch aufgefaßt und demgemäß dargestellt wird, gerade in dieser Zeit ist eine belehrende Darstellung über das Judenthum dringend nothwendig. Unsere Gebildeten schwanken zwischen Haeckel und Harnack hin und her, zwischen der alles negirenden Naturwissenschaft und der das Jndenthum herabsetzenden protestantischen Theologie, zwischen einer Weltanschauung, die jede Religion zersetzt, und einer anderen, die das Jndenthum zu einem Nationalkultus herabdrückt.
Das Jndenthum ist aber eine Weltanschauung, die weder die Naturwissenschaften, noch die protestantische Theologie zu fürchten hat. Die Aufgabe ist, zu zeigen, was das Wesen