67. Jahrgang. No. 30.
Allgemeine
Berlin, 24. Juli 1903.
eitung des Judentums.
Ein unparteiisches Organ für alles jüdische Interesse.
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Redakteur: Gustav Ararxeles.
Begründet von
Rabbiner 9* Ludwig PHMxpson.
Verlags-Expedition: Berlin, Jernsalemersfr. 46/49.
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Verlag von Rudolf rNosse, Berlin.
Leo XIII.
Berlin, 21. Juli.
ie katholische Kirche trauert um einen der bedeutendsten Päpste, die je den Vatikan und die Millionen der Gläubigen beherrscht haben. Die Geschichte wird Leo XIII. das Zeugnis geben, daß er vor allem, wie die großen Volks- sührer zumeist, nach einer Beruhigung der Gemüter gestrebt habe. Aber der Friede, den er suchte und während eines langen, erfolgreichen Lebens zu verbreiten bemüht gewesen ist, war nicht ein durch Unterdrückung der Gedanken oder durch diplomatische Opfer erreichter. Die Idee der Toleranz hat Leo XIII. in Gedichten und Reden wiederholt gepriesen.
Es ist daher begreiflich, daß einem so erleuchteten Geiste, einer so vornehmen Gesinining die moderne antisemitische Bewegung etwas Fremdartiges, Abstoßendes sein mußte. Dreimal hatte der Papst während seines Pontifikats Veranlassung, sich damit auseinanderzusetzen.
Im Frühjahr 1892 hatte ein Kirchenfürst aus Oesterreich, der frühere Prager Erzbischof in einer Audienz beim Papste den Wunsch ausgesprochen, daß an höchster kirchlicher Stelle ein Machtwort gegen die Antisemiten gesprochen werde, „da das Treiben derselben nicht nur die christliche Moral in ihren Grundsätzen erschüttere, sondern auch das Volk einer furchtbaren sittlichen Verrohung preisgebe." Der Papst fand damals diesen Wunsch an sich begreiflich; „es sei oft versucht worden, dein Rafienhaß eine Art kirchlicher Weihe zu geben: der heilige Stuhl habe ein solches Ansinnen stets abgelehnt und niemals verhehlt, daß die wüste Bewegung aus seine Sympathien nicht rechnen dürfe; gleichwohl hieße es, derselben zu viel Ehre erweisen, wenn sie ihrer Gemeingefährlichkeit wegen vom Papste verdammt würde; soweit seien die Dinge noch nicht gediehen, hingegen sei es an den Bischöfen, das Umsichgreifen dieser sozialen Pest mit allen Mitteln zu verhindern und insbesondere zu sehen, daß die Seminarien vor ihr behütet werden, damit diese nicht der Tummelplatz roher Leidenschaften werden; die Priester sollten nie vergessen, daß alle Menschen Geschöpfe Gottes seien, und daß ein gehässiges Wort von ihren Lippen dreifach strenge Sühne erfordere."
Für alle, die den Geist des Papstes erkannt hatten, brachte diese Nachricht damals weder etwas Befreindendes, noch etwas besonders Unwahrscheinliches. Wir knüpften allerdings nicht die überschwänglichen Hoffnungen daran, daß nur durch ein Machtwort des Vatikans der ultramontane Antisemitismus jum Schweigen gebracht werden könne. So war es auch. Es ist ja eine Tatsache, daß seit dem Tode des ausgezeichneten Zentrnmssührers Windthorst der Antisemitismus auch im ultra- montanen Lager, namentlich in Bayern, zugenommen hat. An einzelnen Anhängern hat es allerdings auch schon früher keines
wegs gefehlt. Erscheint ja seit Jahrzehnten ein offiziöses Organ des Vatikans, das unaufhörlich den häßlichsten Judenhaß predigt. Und in Oesterreich ist es gerade der niedere Klerus, der sich mit den wildesten Antiseiniten zu gemeinsamer Aktion verbunden hat. Auf der anderen Seite darf man freilich nicht in Abrede stellen, daß die großen Kirchenfürsten in den letzten Jahrzehnten fast einhellig sich gegen den Antisemitisinus ausgesprochen haben. Ebenso haben bis jetzt die Führer des Zentrums — mit unwesentlichen Ausnahmen — nicht zur antisemitischen Fahne geschworen, sondern sich gegen dieselbe erklärt.
Angesichts dieser Tatsachen war das Friedenswort des Papstes in der Blütezeit des Antisemitismus eine sehr erfreuliche Erscheinung.
Die Bestimmungen des vatikanischen Konzils haben die Alleinherrschaft des Pontifex Maximus in der römischen Kirche dogmatisch festgestellt. Wer also vom Mai 1892 ab gegen die Mahnung des Papstes jener „wüsten Bewegung" sich anschloß und jene „soziale Pest" verbreitete, der mußte als „ein abtrünniger Christ" gelten. Freilich war es ja aus der Geschichte nur zu bekannt, daß der niedere Klerus auch selbst um ein Machtgebot des Vatikans sich nicht kümmerte, wenn es seinen Tendenzen widerspreche. Man braucht bloß an das Beispiel des verstorbenen Dr. Sigl in München zu denken, dessen „Vaterland" ja feit Jahrzehnten die Führung in der Judenhetze übernommen hat. So wurde denn auch nach wie vor der „wüste" wie der „stille" Antisemitismus trotzdem iin klerikalen Lager weiter betrieben.
Uns hat dazumal jenes Papstwort nicht in Verwunderung gesetzt. In der Tat, wir hatten es nicht anders erwartet. Auch hier ist die Geschichte die beste Lehrmeisterin. Gar oft waren es die Päpste, die — mit seltenen Ausnahmen — gegen die Blutbeschuldigungen, gegen die Judenverfolgung aufgetreten sind. Wiederholt sind hohe Würdenträger der Kirche auch im letzten Jahrzehnt für die Idee der Toleranz, des religiösen Friedens mit Begeisterung eingetreten. Xobl63se oblige! Und dieser Adel der Gesinnung war es auch, der das greise Oberhaupt der katholischen Christenheit dazu veranlaßt hatte, jene entschiedene Absage au die antisemitische Bewegung zu richten, die zwar der Bewegung selbst ein Ende nicht machte, aber doch wenigstens ein gewichtiges Zeugnis für die Inden und gegen ihre Feinde bleiben wird.
Dieser Adel der Gesinnung war es auch, der Leo XIU. acht Jahre später zum zweitenmal gegen jene traurige Bewegung das Wort ergreifen ließ. Es war dies zur Zeit, da die Dreyfus» Affäre die ganze Welt in Aufregung versetzte.
Wenn die Geschichte dieser Affäre einmal ansführlich geschrieben werden kann, so wird sich ohne Schwierigkeit auf Schritt und Tritt der Beweis erbringen lassen, daß sie in der Haupt-