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streiche niemand mehr ohne Laterne auf der Straße sehen lassen. In der Nacht des Jom-Kippur wurde zu Gunsten der Juden eine Ausnahme gemacht. Die große Synagoge, die an jenem Abend mit ihren vielen Tausenden weißverhüllter Andächtiger, mit ihren un­zähligen sternenähnlichen Lichtern, einen wahrhaft im­posanten Anblick bietet, wurde von mehreren hochge­stellten Militärpersönlichkeiten besucht, unter anderen auch vom Kosakenatamane Baklanoff. Späterhin sahen wir auch in Kowno in der Nacht von nnss j-.-nn einen lärmenden Judenhaufen bis 2 Uhr nach Mitternacht auf der Straße sein luftiges Wesen trei­ben, und dabei eine ruhig zusehende, lammfromme Pa­trouille. Wir heben diese an und für sich unbedeu­tenden Thatsachen hervor, weil dieselben das Verhal­ten der Kriegsobrigkeit gegen die Juden ziemlich gut bezeichnen. Anfangs war dasselbe ein sehr bedenkliches, gespanntes. Als der Kriegszustand unter General Murawiew geschärft wurde, wurden die Juden der So­lidarität mit den Aufständischen verdächtigt und der Abgeneigtheit gegen die Regierung geziehen. Der un­umschränkt waltende General Murawiew soll gegen sie eingenommen gewesen sein; es sollten sogar höhern Orts Vorstellungen eingeschickt worden sein, die nicht dazu geeignet waren, die Interessen der Juden zu för­dern. Nach und nach gelang es aber den Juden, sich in ihrem wahren Lichte als unverbrüchlich treue llnter- thanen herauszustellen, als Unterthanen, welche die Besserung ihrer Gegenwart und die Sicherstellung ih­rer Zukunft von der friedlichen Entwickelung des Staa­tes, von freiwilliger Concession seitens der legitimen Regierung erwarten. Die Meinung der machthaben­den Persönlichkeiten ward auch gänzlich umgestimmt und anstatt zu schaden, traten sie nunmehr als Förde­rer und Fürsprecher der jüdischen Sache auf. Wir hoffen, nächstens auf diesen Gegenstand mit mehr Spe- cialität zurückzukommen.

In Wilna circulirten mehrere Gerüchte über neue, den Juden geschenkte Rechte. Wir lasen einen nicht unzuverlässigen Brief aus St. Petersburg, worin be­richtet wurde, daß nächstens eine Ukase erscheinen werde, welche den jüdischen Kaufleuten, Gewerbetrei­benden und Handwerkern freien Aufenthalt in ganz Rußland gestattet. Nach andern soll dieselbe vom Kai­ser bereits unterschrieben worden sein, deren Veröffent­lichung aber von der Entscheidung zweier jüdischen Fragen, die gegenwärtig im Hebräer-Comitö erörtert

werden, abhängig gemacht sein. Dieses Prärogativ des freien Niederlaffungs- und Stapelrechts in ganz Ruß­land, wonach die russischen Juden seit lange streben und welches unbedingt den gordischen Knoten der jü­dischen Frage durchhauen wird, soll nicht ein Sieg des jüdischen Kämpfens und Strebens, nicht die freie Frucht einer gereisten Civilisation sein, sondern lediglich eine Speculation der Staatsökonomie. Der Finanzminister habe nämlich zur Hebung der Industrie und Gewerb- thätigkeit unter den Russen die Vermehrung der Con- currenz durch die Juden als zweckdienlich erachtet und die Aufnahme der Juden aus diesem Gesichtspunkte durchgesetzt. Zwar heißt es, es komme das Gute wo­her es wolle; in solchen Fällen aber muß auch auf die Quelle und den Beweggrund Rücksicht genommen wer­den. Unser Vaterland sollte uns nicht als Fremdlinge zur Förderung der Interessen anderer aufnehmen; wir sind ebenfalls Unterthanen, ebenfalls Bürger, auf de­ren Vortheil der Staat bedacht sein muß. Wir soll­ten nicht Mittel sondern Zweck sein. Außerdem macht eine Elausel den ganzen Bestand der Sache zweifelhaft. Wir wissen es schon auch aus unserer Geschichte, welche traurige Folgen es hat, wenn wir in die Nothwendig- keit versetzt werden, als Concurrenten aufzutreten und dadurch den Neid und Dolkshaß gegen uns zu erwe­cken. Eine solche Einräumung von Freizügigkeit der Juden im Innern Rußlands könnte einen ähnlichen Ausgang haben, wie die berüchtigten cherjonischen Colonisationen, weil sie den Stempel des persönlichen Jntercffes zur Schau trägt und nicht die Frucht freier Emancipation und anerkannter Rechte ist*).

Ein anderer Ukas wird nächstens erwartet, wonach

*) So sehr wir die edlen Ansichten des Hrn. Cor­respondenten hochschatzen, so ist doch nicht zu verkennen, daß die Vorsehung in der Menschenwelt sich auch der materiellen Motive bedient, um das Bessere zu schaffen, und daß jene in der Regel einen festern Mörtel für staatsbürgerliche Bauwerke abgeben als das bloße Prin- cip. Wir haben daher immer auf die staatsökonomische Bedeutung unserer Glaubensgenossen ein großes Gewicht gelegt. Sollte die russische Bevölkerung wirklich die Concurrenz der Juden ungern sehen, so würde dies nicht ausbleiben, ob das Motiv der Freizügigkeit bei der k. Staatsregierung ein staatSvkonvmisches oder ein liberales gewesen. Es kommt vielmehr alles darauf an, ob die Bedingungen der Freizügigkeit liberale oder solche sein werden, welche die ganze Sache illusorisch machen.

Redaction der Allg. Ztg. d. Judenth.

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