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diejenigen Juden, die einen Gymnasialcursus absol- virt haben, mit den auf gleicher Bildungsstufe stehenden Bürgern anderer Consessionen gleichberechtigt sein sollen. Dadurch würde ihnen namentlich der Zutritt zum Dienste in den Kanzcleicn ermöglicht worden sein. Allerdings eine neue Errungenschaft von bedeutender Tragweite. Wir möchten aber mit unserem Zunz ausrufen: „Es ist Zeit, daß den Juden in Europa Recht und Freiheit statt der Rechte und der Freiheiten gewährt werde?'
Der obengedachten Quelle zufolge soll sich in St. Petersburg unter der Leitung des Herrn I. Güuzburg eine Gesellschaft zur Förderung der Aufklärung der russischen Juden bilden, deren Programm aber uns unbekannt ist.
Wir beteten am Jom-Kippur in Wilna in der neuen, so zu sagen reformirten Synagoge. Dieses Gotteshaus, seit sechzehn Jahren existirend, befindet sich noch immer in seinem Urzustände, in seiner primitiven Unvollkommenheit. Es hat noch immer das Aussehen eines im pro visirten Gotteshauses, befindet sich noch immer in einem gemietheten Hause, nimmt ein überaus beschränktes Local ein, so daß die Frauenabtheilung kaum 13 Plätze zählt, und fristet sein kümmerliches Dasein durch spärliche, unzulängliche und unzu- I verlässige Mittel. Sind denn die Juden Wilnas in I sechzehn Jahren gar nicht fortgeschritten, oder find sie I im Gegentheil so weit fortgeschritten, daß sie an Erbauungsanstalten keine Noth mehr zu haben glauben? Die progressive Partei der wilna'schen Judenheit besteht bereits aus mehreren hundert Gliedern, worunter auch sehr reiche, ansehnliche Kaufteute; und doch war sie nicht im Stande, im Verlaufe von sechzehn Jahren! ein Capital zusammenzubringen, um sich ein eigenes geräumiges Local zum Gottcshause anzuschaffen oder einen Fonds zur Sicherstellung der Zukunft desselben zu gründen, selbst nicht, um einen doch so nöthigen Prediger bei demselben zu engagiren. Bekanntlich besteht eine solche Partei aus zwei Theilen: aus solchen, die ihr Vermögen im Kopfe, und aus solchen, die ihre Bildung in der Tasche haben: und was vermöchte nicht eine zweckdienliche Anwendung materieller und intellec- tueller Mittel! Es ist aber für die Sache nichts ge- than worden, wahrscheinlich — aus JndifferentiSmus gegen die Sache selbst oder auch vielleicht aus Mangel an Krasthätigkeit. Jedenfalls muß es sich anders gestalten. Wollen wir, daß unser Progreß Erfolg
habe, daß er Propaganda mache, so muß er nicht in Blasirtheit, nicht in JndifferentiSmus gegen alles Nationale ausarten; er muß mit rationalem Glauben und verfeinertem Gottesdienst Hand in Hand gehen. Allerdings muß es manchem Speculanten unpraktisch Vorkommen, ein lebenswarmes Sümmchen für eine todeskalte Sache zu opfern: Geld zum Aufbau und Aufrechthalten eines Gotteshauses herzugeben, welches sie nie, höchstens drei Tage im Jahre, Rosch haschana und Jom-Kippur*), besuchen. Das ist aber eben das Hauptübel. Und dies könnte, unsers Erachtens, durch Einführung einer geregelten deutschen Predigt beseitigt werden. Das lebendige Wort wird die Gemeinde in- teressiren, bei der die stereotypen Formeln und versteinerten Pajut an Werth verloren haben, und den verglimmenden Funken der Andacht in den erkalteten Her- i zen zum neuen, geläuterten Leben ansachen.
Wir sprachen diese Worte aus dem Herzensgründe, zweifeln aber sehr, ob sie den gewünschten Erfolg hervorbringen werden, schon darum, weil sie den betreffenden Personen schwerlich zu Gesichte kommen. In ! ganz Wilna, glauben wir, wird kein einziges Exemplar | der Zeitung deS Judenthums gehalten, und doch haben wir kein anderes jüdisches Organ in einer lebendigen Sprache.
In Grodno, wohin wir aus Wilna mit der Eisenbahn fuhren, giebt sich ebenfalls ein reges Fortschreiten oder richtiger der rege Wunsch zum Fortschreiten unter den Juden kund. Als Merkmal desselben nennen wir die dort ins Leben getretene jüdische öffentliche Lesebibliothek. Dieselbe ist mit Concession der Regierung gegründet, führt den russichen Adler auf dem Aushängeschild und im Siegel. Der Vorstand wird durch Ballotiren gewählt und von der örtlichen Behörde bestätigt. Die Initiative zu dieser Anstalt gehört eigentlich einem russischen Officier, Win ogra- dow, und scheint auch bei Gründung derselben ein politisches Motiv vorwaltend gewesen zu sein; daher finden sich auch in der Bibliothek, die übrigens erst
*) Sehr pikant ist folgender Witz des sinnreichen Herrn A. M. Dick: An einem Jom-Kippur nach dem Schlußgebete stieg er aufs Almemor und annoncirte: „Meine HerrenDer Vorstand der Synagoge läßt melden, daß übers Jahr Rosch haschana der Gottesdienst um 7 Uhr morgens beginnen wird." Es blieb aber dennoch bei dem Witze.
Correspond.