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„Die # Welt"
Nr. 34
die Konservativen "und die Orthodoxen. Zwischen den ersten zwei herrscht ein Unterschied, wie zwischen einer Nah- und einer Stecknadel. Packt man die eine, wird man von beiden Enden gestochen; bei Berührung der anderen wird man nur auf einer Seite geritzt. Die Eeforni- bewegung hat- den Geist des jüdischen Nationalismus heraufbeschworen. Es ist der Kult einer Anzahl Damen, hingebungsvoller Verehrer messeartiger Kaddisehgebete, die in der Lage sind; ihre christliehen Freunde in ihre unjüdischen Tempel zu bringen. Es geht über meine "Urteilskraft zu entscheiden, ob Beform über die zweite Generation vorhält. Die Ansichten gehen auseinander, aber sicher ist, dass 75 Perzent der Enkel der heutigen Reformer in Amerika nicht imstande sein werden, in Sachen des Judentums zwischen ihrer Beeilten und ihrer Linken zu unterscheiden.
Was den Konservatismus betrifft, so ist derselbe ein Versuch, die Beform zu massigen und wird daher von den beiden Extremen verachtet. Jedoch ist er nicht ohne eine gewisse rettende Anmut; aber wie viel er retten wird, ist noch eine offene Präge.
Die Orthodoxie ist das interessanteste Problem. Es gibt verschiedene Schattierungen der Orthodoxie, die sich erkennen lassen, wenn man von dem oberen Ende zum unteren der Ostseite von New-York schreitet. Was die Orthodoxie an guten Eigenschaften besitzt, wird durch den Mangel an Organisation verzettelt. Ueberdies hat die Orthodoxie — durch ungeheure Schnitzer, ganz verschieden von irgend einem, den die Juden in Europa begehen — keinen Halt bei der jungen Generation; und wenn kein zurückhaltender Einfluss in der nächsten Zukunft sich geltend macht, so wird die Orthodoxie, wie mir scheint, gleich einer Schildkröte vorwärtsschreiten, während ihr die Beform mit Hasenlauf nachkommt.
New-York erinnert mich an einen Polypen; seine Fangarme umklammern alles, was in seinen Bereich kommt, und diese Umfassung hat merkwürdigen Einfluss auf die Leute. Man schätzt die jüdische Bevölkerung dieser Stadt auf über eine halbe Million, und ein ganzer Stadtteil ist ihnen überlassen; und doch zeigt dieser Stadtteil nicht das Aussehen sabbatlichen oder festtäglichen Friedens. Der Jude, der Bussland in voller Frömmigkeit verliess, ist oft nach Verlauf nur eines Monates beim anderen Extrem zu finden. Die jüngere Generation, die Söhne der Orthodoxen, kennen kaum den jüdischen Kalender. Was die Mädchen von den zweitausend Jahren von Glaube, Leiden und Martyrium wissen, wage ich nicht zu fragen, Unwissenheit hat unzweifelhaft die religiöse Degeneration im Gefolge gehabt, und die natürlichen Folgen eines harten Kampfes ums Dasein, die engen und schlechten Wohnungen lassen mich glauben, dass auch Demoralisation anderer Art nicht ausgeblieben ist.
Dabei ist die Gemeinde in zwei Lager geteilt: das „o b e r s t ä d t i s c h e" Element, welches zum grössten Teile wohl niemals etwas über Judentum und Juden gelernt hat und welches die „U n t e r s t ä d t i s e h e n"* erziehen möchte, von welch letzteren die älteren Meister, wenn auch nicht immer, Praktiker im Judentum sind und keine Lust dazu haben, Lehren anzunehmen.
Die amerikanische Luft reizt zum Uebersehäumen, und es gibt hier Leute, welche glauben, viel getan zu haben, wenn sie über etwas viel gesprochen haben. Dabei der Umstand, dass ihre Beden aufs Gr&ndiosa hinausgehen, erzeugt den Eindruck dessen, was die Amerikaner als „bluff" bezeichnen.
Ein Plan für die Begeneration in der amerikanischen Judensehaft ist der, welcher den Prof. Schechter hergebracht hat, um dem Theologischen Seminar vorzustehen. Das ist von Seite gutgesinnter Leute arrangiert worden.
welche keine persönliche Kenntnis von den Bedürfnissen der Armen haben. Theologie ist kein Gegenmittel gegen das hier herrschende Gift. Aber der Gewinn werden Babbiner sein, welche mehr als einen Anstrich vom Judentum besitzen.
Ein anderer hoffnungsvoller Einfluss, der sich hier geltend macht, ist der der „B'nei Brith"j welche mit dem Hiesigen „Jewish World" darauf hinausarbeitet, die jüngere Generation zu judaisieren. Diese Judaisierung ist wahrhaftig notwendig für die Gesamtheit jener Klassen, die eine moderne Erziehung erhalten, in welcher „Jüdisch- keit" ganz fehlt.
Als Zionist finde ich, dass hier vor allem der jüdischnationale Geist fehlt. Ich bin von der Grundlage der Tätigkeit, die ich heuer beginnen will, so weit abgeschweift, um die ernsteste Aufmerksamkeit dem Kulturprogramm zuzuwenden, denn bevor der Zionismus hier zu nennenswerter Bedeutung gelangen kann, muss die Erziehung des Volkes hierfür durchgeführt sein. Diese Judenschaft ist gar sehr verweltlicht; und damit ist das Verlassen der alten Standarte des Judentums, des Gemein- und Verwandt- schaftsgefühles Hand in Hand gegangen.
Zionismus wird hier zu oft eher als Wohltätigkeitsbestrebung denn als Nationalbestrebung angesehen. Und während ich aus der Ferne dachte, dass jenes die Losung für Amerika sein müsste, bin ich heute zur Erkenntnis gelangt, dass Zionismus als Nationalidee gerade für die Juden in Amerika eine dringende Notwendigkeit ist- So lange , die Juden in Osteuropa in ihrer heutigen traurigen Lage sich befinden, braucht nicht, befürchtet zu werden, dass sie die jüdischen Traditionen vergessen werden, aber derjenige, welcher herüberkommt, müsste vor dem überwältigenden Charakter der Umgebung standhalten.
In den chaotischen Zuständen, die im amerikanischen Judentum herrschen, trachtet jeder Babbi, der nach Ansehen strebt, eine neue Absurdität ausfindig zu machen, die er als sein Ideal des Judentums proklamiert. So ist es gekommen, dass ein Babbi „Konfirmanden" „in das Haus Israels aufnimmt (!)als wäre er ein Priester; ein anderer schreibt in einem Buche, die Juden hätten keinerlei nationale Charakteristik, und von einem dritten bringen die Zeitungen unter fusshohen Ueberschriften Interviews, welche die Verlegung des Sabbats auf den Sonntag begründen sollen. Die höchste Leistung dieser Art war die Entdeckung, dass Austern — Gemüse seien, und das Essen dieser Zweischaler den Juden gestattet sei!
Die Zionisten haben ihre Mission in diesem Lande noch nicht ganz erfasst. Einer der schönsten Tage meines" Lebens war der, den ich in Gesellschaft jüdischer Knaben und Mädchen in Philadelphia in einem öffentlichen Parke, erhebende und aufreizende jüdische Lieder singend, verbracht habe. Das war eine der wenigen zielbewussten Bemühungen, die junge Generation in den alten Herdgrenzen festzuhalten.
Wenn das Judentum in Amerika vor der Auflösung und Vernichtung gerettet werden soll, kann es nur die nationale Doktrin, der Zionismus, allein vollführen, und wenn die Beihen und Scharen von New-York, welche für unsere nationale Sache bisher nicht entsprechende Arbeit geleistet haben, die Zurschautragung und Durchhechelung ihrer mannigfachen Beschwerden fallen lassen} würden, fänden sie vor sich das grösste Feld für zionistische Tätigkeit, das uns irgendwo zur Verfügung steht. Denn die amerikanischen Juden — abtrünnig, wie sie mir von manchem Gesichtspunkte aus erscheinen — haben eine wunderbare Eigenschaft: selbst die reichsten unter ihnen sind bereit, etwas zu lernen und nehmen gute Batschläge gut auf; sie sind ferner mildtätig und ferner leiden sie — in der freien Bepublik! — unter sozialem Ostraisismus. Das
