Nr. 13
„DieWelt"
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Ein Ritualm«rdmärchen setzt seit einigen Tagen das Städtchen Jutioschinin Posen in Aufregung und hat sich mit unheimlicher Geschwindigkeit in der ganzen Umgegend verbreitet Es geht dahin: Der angesehenste und reichste israelitische Kaufmann unserer Stadt, W. Rosenbaum, Voursteher der Chewra Kadischa, habe einen christlichen Schüler in seinen Keller gelockt und dort in eine Kiste eingenagelt Erst nach drei Tagen wären bei den Nachforschungen, die die Eltern des Knaben anstellen Hessen, die Gendarmen durch schwache Hilferufe der Tat auf die Spur gekommen und hätten den Knaben halberstickt und fast verhungert aufgefunden. — So unglaublich lächerlich diese Erzählung ist, so schlimm ist ihre Wirkung gewesen: Das Haus des Kaufmanns R, dessen Kundschaft fast ausschliesslich aus der Landbevölkerung besteht, wird vollständig boykottiert; ihm wird nichts übrig bleiben, als fortzuziehen. Und auch die Geschäfte der übrigen jüdischen Kaufleute, welche einen Teil ihrer Waren im Keller aufgespeichert habea, werden ängstlich gemieden, so dass die Breslauer Keisenden keine Aufträge mehr erhalten. Mit den böswilligen ^Urhebern des Gerüchtes, den Mitschülern des betreffenden Knaben (der in Wirklichkeit einen Tag die Schule geschwränzt hatte), wird sich wohl demnächst das hiesige Gericht bq befassen haben.
Das Blutmärdnen. Aus Budweis wird geschrieben: In dem bei dem Orte Cemelitz gelegenen Dorfe Smetanova- Lhota (Bezirk Pi««k) vermisste dieser Tage ein Bauer seine 18jährige Tochto.. Es fanden sich Leute, welche gesehen haben wollten, «iass das Mädchen in das Haus des Kaufmannes Wilhelm Fantl in Cemelitz geschleppt worden sei, kurz darauf Hiätten sich viele Juden aus der Umgebung dort eingefunden und Fantl habe sich auf den Bahnhof begeben, wahrscheinlich um mit dem Blute des Mädchens nach Wien zu fahren. Dieses Gerede verursachte in der Gegend grosse -Aufregung. Am folgenden Abend versammelte sich vor dem Kfeuse eine grosse Menschenmenge, welche drohende Rufe pegen die Juden ausstiess und die Herausgabe der „Leiche 8 des abgeschlachteten Mädchens verlangte. Im Hause war mar die Frau Wilhelm Fantls mit ihren Kindern anwesend und weigerte sich begreiflicherweise, das Tor zu öffne». Dem einzigen im Orte anwesenden Gendarmen gelang die Menge zu zerstreuen, doch stellte dieselbe Wachtposten auf, welche die Nacht über das Haus beobachteten, damit die „Leiche" nicht beseitigt werden könne. Am darauffolgenden Morgen wurde die Menge in das Haus eingelassen und durchsuchte es, ohne etwas Verdächtiges zu finden. Kurz darauf erschien das Mädchen wieder im Dorfe.. Es gab an, dass es eine Wallfahrt nach dem heiligen Barg gemacht habe. Herr Fantl hat einen Advokaten damit betraut, gegen die Urheber der gegen ihn veranstalteten Hetze die gerichtlichen Schritte einzuleiten.
Eine „anstandige" Konfession. In den jüngsten Etats- Debatten sprach Graf Roon über die Pflicht des christlichen Hauptmanines, für das Seelenheil seiner Soldaten zu sorgen. Aus diesem Anlasse erinnert ein Leser des „Vossischen Ztg_ c an das 1 olgende Zwiegespräch, das sich einmal nach dei Zuweisung der neueingestellten Rekruten an die Kompanie zutrug: „Hauptmann: Wie heissen Sie? Soldat: Friedrich Schultze. Hauptmann: Stand und Konfession : Kaufmann, Dissident. Hauptmann : Sind Ihre Eltern auch Dissidenten - ? Soldat: Ja. Hauptmann: Ihre Grosseltern auch ? Soldat: Mein, die waren evangelisch. Hauptmann : So, so! Na, alter Freund, nun will ich Ihnen was sagen. Wir haben jetzt 9 Uhr. Um 12 Uhr melden Sie sich bei mir. Wenn Sie sich ri^nn nicht eine anständige Konfession angeschafft haben, werden Sie zu den Juden geschrieben. Verstanden ? Wegtuen! B
Zuviel. Unter dieser Marke brachten wir in unserer ersten Februar-Pfummer die Nachricht, das die Lausanner Studenten, nicht ohne antisemitische Grundstimmung, gegen die Zulassung jüdischer Studentinnen an ihre Universität protestierten. Wir sprachen damals die Befürchtung aus, dass durch Wiederholung solcher Fälle der russischjüdischen Jugei*i die einzig zugängliche Bildungsstätte, die Schweiz, gespeict werden könnte. Dieser Fall ist näher gerückt. Das zionistische Wort, „Ueberfüllung mit jüdischem Element bringt Antisemitismus", hat seine Wahrheit leider wieder offenbart. Wir erhalten aus Genf folgende Nachricht: „Sämtliche 77 Schweizer Medizin-Studenten der Universität Genf richten an den Vorsteher des Erziehungsdepartements zu handen der Etegierung eine Petition. Es wird darin auf die auch in Zürich und Bern längst zur Sprache gebrachten Uebelstände hingewiesen, die mit der unmässigen Invasion fremder, zumeist russischer Studentinnen zusammenhängen : in den Hörsälen gebricht es an Platz, in Kliniken und
Laboratorien zudem an Material. In Zürich besserte sich die Sache, sobald man von den zukünftigen Aerztinnen aus dem Osten Ablegung einer der einheimischen" Maturität urigefähr entsprechenden Prüffang und einige Kenntnis der Landessprache forderte. Eine ähnliche Massregel zur Abhilfe schwebt auch den GeiLför Medizinern vor." In Zürich besserte sich die Sache — ein harmloses aber schweres Wort. Das Wortheisst: Sounudsoviele Studentinnen wurden zurückgewiesen. Wer mit einer Matura malträtiert wurde, weiss, was eine zweite zu bedeuten hat. Und so ging und geht der Strom der Kämpfer : £egen ein unverdient hartes Geschick von Deutschland nush der Schweiz, von Lausanne nach Zürich, von Zürich nach Genf, von Genf nach Basel
■-- : und dann nicht mehr mach Basel, eine der letzten
Lücken der Ghettotore ist geschlossen.
Eine jüdische Stiftung. Am 1, März fand in Brünn die Eröffnung des Max und Johairma Rosenthal'schen Stiftungshauses statt. Die Stiftung wurde auf Grund des Testaments der im Jahre 1898 verstörteren Frau Johanna Rosenthal, der Witwe des r or Jahren in Brünn in seinem eigenen Kontor ermordeten Schuhwarenfabrikanten Max Rosenthal, ins Leben gerufen* Frau Rosenthal bestimmte letztwillig einen Betrag von 300.000 Kronen zur Errichtung eines jüdischen Armenhauses nach dem Muster der Lamm ersehen Stiftung in Prag. Dr. Grünfeld hielt die EEaweihungsrede. Gegenwärtig sind bereits 10 Anstaltsplätze besetzt.
Jüdische Auswanderer aus Oesterreich-Ungarn* In der Zeit vom 1. Juli 1901 bis 30» Juni 1902 wanderten aus Oesterreich-Ungarn 12.848 Juden mach Nordamerika aus. Der jüdische Auswanderer, wenigstens aus Oesterreich-Ungarn, hat von Ackerbau und Vi«3izucht ganz unzureichende Kenntnisse, grössere im Handwerke; er ist durchschnittlieh an Körperkraft den anderen österreichischen Auswanderern bedeutend nachstehend, jedocli arbeits- und unterordnungswillig und anpassungsfähig, m Sonderheit durch rasche Erlernung der fremden Spractto, und zeigt grosse Geschicklichkeit in den meisten höh-er organisierten Handwerken; auch ist er äusserst nüchtern, hat grossen Familiensinn und ist fruchtbar. Nach dem Jahresberichte pro 1902 des nordamerikanischen Einwam-derungs - Generalkommissärs entfallen auf 57,(588 Juden : Inieiligenzarbeiter 17,841 (skilled), Taglohnarbeiter 8121 (labouieis), und ohne Beschäftigung 25.952 (Weiber und Kinder inbegriffen). Aus diesen Zahlen ist entnehmbar, dass die Jaden am ersten mit Weib und Kind auswandern, am wenigsten Taglohnarbeiter, aber von allen Nationen den höchs t«n Prozentsatz an Intelligenzarbeitern aufweisen, nämlich Eiber ein Drittel des Totalen der Auswanderung aus Intellagenzarbeitern bestehen. (Die Zahlen sind einer Arbeit des Herrn Dr. E. Fr. W e i s 1 entnommen, die in der „WocDke" erschienen ist.)
Die Segnungen des „LiberaJismus". Die Erfahrung hat uns immer gesagt dass die ökonomische und geistige Hebung des Judentums in Zeiten des Liberalismus durch eine gleichzeitige, merkwürdige Erscheinung mehr als aufgehoben wird. Das Judentum, dessen Leben bis zur zionistischen Aera nur die Gefahr war, schläft ein, zer- fliesst, hat keine Führer und keine Gefolgschaft. Ein geistreicher Artikel in der „Revue blanche", den wir seinerzeit brachten, hat die Hypothese aufgestellt, der Liberalismus mit seinen Judentaufen sei Antisemitismus. Folgende Nachricht klingt wie eine Bestätigung dieses Satzes:
(Budapes t.) Hier ist ein »Verein der Gläubigen" in Bildung begriffen, der sich die Aufgabe stellen soll, den M as s e n tauf e n zusteuern. Im abgelaufenen Jahre 1902 haben beim Pester Rabbinat der grossen Gemeinde allein 21 1 Juden ihren Uebertritt zum Christentum, respektive Austritt aus dem Judentum angemeldet, um 45 mehr als im vorhergegangenen Jahre 1901 und um 83 mehr als im Jahre 1900. Grösser noch ist aber die Zahl derjenigen Apostaten, die ohne diese gesetzlich vorgeschriebene Anmeldung dem Judentum abtrünnig wurden. Erwähnter Verein will nun alle diese Fälle in Evidenz halten und an den Pranger stellen, ausserdem in solchen Fällen energisch intervenieren, wo jüdische Beamte wegen Verweigerung der Taufe präteriert oder durch Anbietung eines Avancements zur Taufe verlockt werden. Ferner beabsichtigt der Verei a jüdisch-historische Vorträge zu veranstalten und religiös-moralische Bücher zu verbreiten. Schliesslich gedenkt er, die israelitische Gemeinde aufzufordern, die Mädcheneralehung durch feierliche Konfirmation zwölfjähriger Mälehen in den Synagogen zu ergänzen, wobei die Mädchen das Gelübde leisten sollen, dem jüdischen Glauben treu zu lleiben und sich niemals, unter keinen Umständen, zur VeirLeugnung desselben verleiten zu lassen.