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Mr. 14
Wien, 3 April 1903 — 6. Nissan 5663,
7 U lahrgang
Vor dem Passah-Feste.
W. Das schönste und glorreichste jüdische Pest naht heran. Das Fest der Erinnerung an die Befreiung aus Egypten,;-ans dem Hause der Knechtschaft. Kaum gibt es ein nichtjüdisches Pest, das an unser Passäh heranreicht an weihevoller Heiligkeit, an wundervoller Frühlingsschönheit; denn Passah ist das Fest, das uns die Freiheit kündet, auch im Sklavenhause.
Viele tausend Passahfeste hat unser Volk schon gefeiert. In Freiheit und in Selbständigkeit und in Knechtschaft und im Elend. Viele tausend Märtyrer haben dieses Fest durch ihr Blut geheiligt. Kann ein solches Fest je vergessen werden ? Kann es seiner Hoheit, seiner leuclitenden Schönheit je beraubt werden? Was sind die paar GaLuthjuden, die es mit einem Achselzucken oder mit höhnischem Lächeln abtun, gegen die Millionen, die es inbrünstig feiern mit Sehnsucht nach der Heimat im Herzen und de^ni Hoffnungsruf der Freiheit auf den Lippen? Nein! Auch im Groluth wird die Pracht unseres Passah leuchten, ol) auch tausend Abtrünnige blind sind gegen seinen Glanz.
Und doch ! In unsere Freude mischt sich schmerzliche Bitterkeit. Unser Heiligstes, Schönstes sefen wir alljährlich in den Staub gezogen, von frechen H&nden besudelt, von giftigen Mäulern begeifert. Jahr für Jahr werden selbst diejenigen Juden, die nur das Osterfest kennen und das Passah vergiessen wollen, daran erinnert. Man zwingt sie zurück zur Gemeinschaft, der sie sich entziehen. Wenn sie auch das Passah nicht feiern wollen — das Blutmärchen müssen sie ertragen.
Es war vor wenigen Jahren. Damals, als der Polnaer Mordprozess in Oesterreich weidlich gegen lie Juden ausgebeutet wurde. Dass verkommene Subjekte, die sich aus dem Antisemitismus ein Geschäft machen, alles daran setzten, um einen Bitualmord zu konstruieren, nahm mich nicht wunder. Dass aber auch sonst billig denienAe Menschen in hoher verantwortungsreieher Stellung an einen solchen Wahnsinn allen Ernstes glauben könnten, im schien mir, wie jedem anderen Juden, ein Ding der Unmöglichkeit. Damals war es, dass ich die Ehre hatte, im Wiener erzbischöflichen Palais und dann von einem hohen kirchlichen Würdenträger empfangen zu werden. Es waren hervorragende Männer, die ich um ihre Meinung über äm angeblichen Ritualmord befragte. Die Antwort war entmutigend vor
sichtig. Ich habe seinerzeit diese Interviews in einem grossen englisch-jüdischen Blatte veröffentlicht, das kurz vorher die entrüsteten Aeusserunfen des Londoner Erzbisehofs über den Eitualmordschwinäel publiziert hatte.
Noch entmutigender aber als äit Antworten, die ich in Wien erhalten hatte, war ein Schreiben*, das mir der Herausgeber des englischen Blattes zusendete. Es war der Brief eines hervorragenden deutschen Ju(kai, der die Veröffentlichung dieser Interviews als inopportun bedauerte und die grösste Furcht verriet, dass damit eist recht Schaden angerichtet worden sei.
Was muss im Kopfe und in <kT Seele eines solchen Juden vorgehen? Das war die Frag-fe, die sich mir damals aufdrängte, und die auch heute wieder aktuell ist; denn das Blutmärchen ist auch heuer wieder aufgetaucht und die Vorsichtigen w r erden nicht alle. An welche Feindschaft ringsum muss er glauben, welche Geiahren muss er drohen sehen, wenn er von einer solchen Veröffentlichung Schaden fürchtet! Man wirft uns Zionisten tot, dass wir die Lage der Juden schwarz in schwarz maleiL, dass wir übertreiben. Aber gegen solche Juden sind wir ja die kindlichsten Optimisten ! Der tiefere Grund dieser Meinungsverschiedenheit liegt aber wo anders. Die Juden von der Art des damaligen Briefschreibers, die sonst ihre „Glaiü>ens"genossen immer mit dem Hinweis auf die allgemein Humanität und den sicheren Fortschritt von jeder jüdischen Aktion abhielten, hatten nicht nur keine Achtung- vor einer Kraftäusse- rung der jüdischen Gemeinschaft, somäern fürchteten sie geradezu, damit man nicht von einer jüdischen Solidarität spreche, damit man den Judenfeind en keine Waffe in die Hand gebe. Das ist's, was ihnen Kcjf und Herz verwirrt — die Angst vor den Gegnern, diese Hypnose, die sie zwingt, starren Blickes immer nur den Judenfresser anzuschauen, um nicht von ihm überfallen zu werA-em. Nicht das Bewusst- sein eigener Kraft, nicht die Uebeiaeugung ihres Kechtes, nicht das Vertrauen auf die Unvergäiuglichkeit ihres Volkes erfüllt sie. Ihnen dünkt die äussere Hilfe, die ihnen ein paar freisinnig schillernde Fraktionellen versprechen, odei die Herausgabe eines Antisemitenspiegels, in dem sämtliche bekannt gewordenen Lumpereien duAler Ehrenmänner aufgezählt werden, oder die Dekorierung" irgend eines Bankiers oder Grossindustriellen jüdischer AMninft als das Um und Auf dessen, was die Welt über den Kampf zwischen den