geringen. Die blosse Parteianhängerschaft, die tägliche Kleinarbeit, gewiss unumgänglich notwendig, sind doch lange nicht hinreichend. Nicht nur Orientierung über den Stand der Bewegung, Erfolge und Zielpunkte bilden den geistigen Horizont des Zionisten, sondern ein Erfassen des jüdischen Wesens, seiner Geschichte und seines Geistes. Kein Volk ohne den Geist, keine Erweckung eines Volkes ohne Wiedererweckung seiner Kultur oder Neuschaffung derselben aus der eigenen geschichtlichen Entwicklung heraus in Synthese mit der allgemein-menschlichen Entwicklung.
Wie viel in dieser Beziehung noch unterlassen und gesündigt wird, kann niemandem entgehen, der nur einigermassen tiefer blickt. Der Optimist mag dies erklären durch alle jene Umstände, welche die gewaltige Kluft mit einem Schlage zu überwinden hindern. Aber dies sei kein Optimismus, der sich zufrieden gibt, sondern nur jener Optimismus des Kampfes, der in dem Bewusstsein besteht, dass dasjenige, wofür mit Kraft, Liebe und Begeisterung gekämpft wird, in der Geschichte sich immer und immer erfüllt hat, sei es auch nach vierzig Jahren der Wüstenwanderung, sei es auch in anderer Form, als es die ersten Kämpfer geglaubt.
So wird uns die tiefgewurzelte nationale Erinnerung zur nationalen Hoffnung und wir können in der Hagada ein Stück Hagada der Zukunft lesen.
Die vier Hagadah-Gestalten,
Der Weise fragt: Was künden diese Zeichen Des neuerwachten Lebens weit und breit? Was will das Blühn und Knospen ohnegleichen? Ist es der Anbruch einer neuen Zeit ?
Ihm sag', ein neues Passah sei gekommen, Und der Erlösung grosse Stunde naht, Schon sei die Morgenröte aufgeglommen Und leuchte zu der Heimat uns den Pfad!
Der Böse fragt: Was nützt euch dieses Ringen ? Was soll euch dies verzweifelt wilde Tun? Ihr könnt, was tot ist, nicht zum Leben zwingen, Drum gebt es auf und lasst die Toten ruh'n/
Ihm, der sich ausschliesst, mache stumpf die Zähne Und sag' ihm voll Verachtung: Nicht für ihn, Für uns allein, für uns und uns're Söhne Wird sich das grosse Wunder einst vollziehen!
Die Einfalt fragt: Was hat dies zu bedeuten? Ist bald zu Ende unser Weh und Ach ? Sind schon vorüber all die Bitterkeiten, Die uns betroffen schwer und tausendfach?
Ihr sage: Nur durch eig'nen starken Willen, Durch einen Willen, kraft- und mutbelebt, Kann sich der sehnsuchtstiefe Traum erfüllen, Der in der Judenseele glüht und bebt!
Das Kind jedoch, das noch nicht weiss zu fragen, Nimm voller Zärtlichkeit auf deinen Schoss Und melde ihm von jenen Wundertagen, Von jenen Tagen, stark und licht und gross*
Da sich der Knecht aus dumpfer Starrheit rührte, Da unser Volk zur Freiheit auferstand, Und uns der Ewige aus Mizraim führte Mit ausgestrecktem Arm und starker Hand! Antwerpen. Heinrich Grünau.
*
Zur Geschichte des Zionismus/*)
Von Dr. Adolf Friedemann (Wiesbaden).
Der Zionismus ist die Bewegung unter den Juden, welche zur Lösung der Judenfrage die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Volksheimat in Palästina erstrebt.
Liegt für ein solches Unternehmen, das die schwerwiegendsten Folgen für die gesamte Judenheit nach sich ziehen muss, eine Notwendigkeit vor? Ist es durchführbar? Welche Gründe sind für die Gegner der Bewegung bestimmend und welches Gewicht muss denselben beigemessen werden? Alle diese Fragen drängen sich dem ernsten Betrachter auf. Versuchen wir, sie im nachstehenden zu beantworten.
»
Die Sehnsucht nach Zion ist so alt wie Israels Zerstreuung unter die Völker. Seit dem Tage, an dem Titus Jerusalem nach heldenmütiger Verteidigung nahm, hielt die Hoffnung auf die Rückkehr und die Wiedererrichtung des Tempels unsere Väter aufrecht in Schande und Not. In der Marter des Flammentodes und der Folter, in Spott und Verfolgung, im Jammer einer unsäglich entwürdigten Existenz hat allein der Gedanke das Volk erhalten, dass alles Leid nur der Reinigung Israels diene und dass einst der Tag der Heimkehr den Ueberlebenden erscheinan werde.
„Möge meine Rechte verdorren, wenn ich dein je vergesse, Jerusalem", so singt der Psalmist, und im gleichen Empfinden einte sich ganz Israel.
Dann kam der Tag, an dem die Ghettomauern niedersanken und die trügerisch-süsse Kunde in die dunklen, luftlosen Gässchen drang: „Der alte Hass ist begraben, die schönen Worte Gleichheit und Brüderlichkeit sollen auch dem Volke der Propheten gelten. Nichts weiter wird von euch begehrt, als dass ihr die Kultur der Herren des Landes in euch aufnehmt und gute Bürger werdet. Dann wird euch die volle Gleichberechtigung zuteil werden."
Es ist nicht verwunderlich, dass Menschen, die noch vor wenigen Jahren zur Volksbelustigung „mit anderen Tieren", Pferden und Hunden, öffentlich um die Wette rennen mussten, denen der Aufenthalt überall da untersagt war, „wo ein grüner Halm wuchs", die vor jedem Bauernjungen beiseite treten und „mores" zeigen sollten, bei solcher Nachricht in einen förmlichen Rauschzustand gerieten.
Hinaus aus dem Ghetto, das war die Losung — und beim Auszuge liess man in der Hast alles zurück, was an das düstere Gefängnis erinnern konnte. Man vergass Geschichte und Tradition, jüdisches Wissen und Familiensinn, Selbstbewusstsein, Nationalität und Religiosität — alles hat man auf dem Altar der Assimilation niedergelegt. Alle Werte wurden umgewertet. War es früher gut gewesen, das Judentum öffentlich zu betonen, so ward dies jetzt zum Unrecht. Die Ableugnung der Eigenart erschien als Pflicht gegenüber der mächtigeren und also offenbar besseren arischen Lebensführung und Anschauung. Man schwelgte im Deutschtum und schämte sich des jüdischen Aeusseren, der armen Verwandten, jeder jüdischen Regung. Die Chanukalichter erloschen und die Weihnachtsbäume wurden angezündet. Ging man zum Tempel, so wickelte man das Gebetbuch vorher in Zeitungspapier, und die
*) Aus der Broschüre „Was wül der Zionismus?* Herausgegeben von der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. 1903. Berlin C. 22. Auguststrasse 49 a.