Hausfrau erblasste, wenn das Wort „Jude* vor den Dienstboten ausgesprochen wurde. Die Söhne mussten auf dem Gymnasium den christlichen Religionsunterricht besuchen und die Töchter wurden in „vornehme" Pensionen, das heisst in solche geschickt, die tunlichst keine anderen Ju<kn aufnahmen. Die Kenntnis des Hebräischen versclmand, denn es galt für lächerlich, die Kinder mit dem. 9 veralteten Kram" zu behelligen. Dafür begann ein "unwürdiges Haschen nach christlichem Verkehre, 3i»ach der Mitgliedschaft in christlichen Vereinen und Studentenverbindungen. Man wollte und musste sich dfcs Deutschtums würdig erweisen, in ihm aufgehen; hinten waren ja die Schiffe verbrannt. Schliesslich gab es Massentaufen — abgesehen von einem Häuflein Oithodoxer war das Judentum zur Auflösung vorbereitet und willig — da kam der Antisemitismus.
Anfangs war man sprachlos. Hatte man nicht redlich sich gemüht, Im Deutschtum aufzugehen ? Hatten nicht Juden deutsche Wissenschaft nnd Kunst gefördert? Hatte man nicht im Nationalverein geschwärmt und auf den Schlachtfeldern dreier Kriege Blut für die deutsche Einigkeit vergossen ?
Schliesslich fasste man sich und kam zu dem Schlüsse: „Diese Bewegung ist eine Kinderkrankheit des Deutschen Reiches, das geht vorüber."
Aber das Uebel wollte nicht schwinden. Der Antisemitismus trai vielmehr seinen Siegeszug durch alle Kulturländer au. Die russische Judengesetzgebung vom 3. Mai 1882 warf zehntausende unschuldiger Menschen mitten im harten russischen Winter auf die Steppe. Westeuropa widerhallte vom Jammer und Wehklagen der Vertriebenen, die in endlosen Scharen über den Ozean zagen und in London, New-York und Chicago neue Ghetti schufen; in Galizien und Rumänien wurde der Hungertyphus eine chronische Erscheinung — da begann man nachzudenken, ob der eingeschlagene Weg denn wirklich- der richtige gewesen sei. Und allmählich dämmerte die Erkenntnis auf, dass man einen grossen Rechenfehler gemacht hatte, nämlich den: die Versprechungen von der Gegenseite für Ernst zu nehmen und daraufhin die Assimilation zu versuchen,
Assimilation Lst der wissenschaftliche Ausdruck für den Vorgang, dass ein grosser, kräftiger Körper vermöge seiner Uefe erlegenheit einen schwächeren sich gleich macht. Die Assimilation der Juden und Arier hätte also nur dann erfolgreich sein können, wenn der grosse, arische Volkskörper die Assimilation hätte vollziehen wollen. Dazu war aber auch nicht die geringste Lust vorhanden. l>er Grund war klar. Das Gesetz soll der Ausdruck der Rechtsüberzeugung des Volkes sein, soll durch Aufstellung einer allgemeinen bindenden Formel einem bestehenden Gesellschaftszustand Geltung schaffen. Die Em anzipationsgesetze aber waren nur der Ausflusss liberaler Theorien und standen mit der herrschenden Rechisansehauung, wie mit dem bestehenden Gesellschaftssustand in Widerspruch. Der Antisemitismus war die natürliche Reaktion gegen ein Gesetz, das einen Zustand erst schaffen sollte. Und darum konnten die Machthaber das Verfassungsversprechen nicht erfüllen, auch wenn sie gewollt hätten. Die Juden waren und blieben für das Volk ein Fremdkörper, dem man nicht verstand und auszuscheiden versuchte. Und jene, die gutgläubig den Versprechungen getraut hatten, waren die Betrogenen.
Während man in Deutschland diese Erwägung anstellte, erschien die Broschüre des russischen Arztes Dr. Leo Pinskei „Autoemanzipation", in der zuerst
zionistische Gedanken in prägnanter Form entwickelt worden. Am 6. November 1881 trat eine Anzahl von Männern, meist den „Chowewe? Zion" angehörig, in Kaitowitz zusammen, um eine geregelte Unterstützung de r 1879 begonnenen palästiflem ischen Kolonisation zu vereinbaren und wählte Pins k er zum Präsidenten. Di eise Wahl zeigte, weicher Geist zu herrschen begannen hatte. Ueberall entstanden Vereine zur Begründung von Ackerbaukolonie-o, 1884 waren von eruieren schon 50 vorhanden, ja in Russland zog sogar eine kleine Schar begeisterter Studenten nach dem Heiligen Lande, nur von dem Wunsche beseelt, im Sehweisse des Angesichtes das Land der Väter zu bearbeiten. Und sie haben unter grossen Mühen das Ziel iber Wünsche erreicht; sie sind heute unabhängige Bauern, die keiner Unterstützung bedürfen.
Aber bald begann man ein zusehen, dass die auf der Wohltätigkeit basierte Kolonisation wohl einzelnen helfen, nicht aber die Judennoi an sich beseitigen könne. Die hohen Kosten der Eimzelansiedlung, die unsicheren Rechtsverhältnisse dei Kolonisten, die Bevormundung derselben durch die Verwaltungsorgane der "Wohltäter und der daraus sich ergebende Mangel an Initiative bei den Kolonisten einerseits, Willkür in den Anordnungen anderseits zeigten, dass schwere Mngel dem Unternehmen anh&fteten, wenn schon die stehenden Kolonien den sicheren Beweis für die Befähigung der Juden zum Ackerbau zweifellos geliefert hatten/Wollte man de* Gesamtheit helfen, so musste man die idealen Empfiadungen der Volksseele aufrufen, musste man an das Nationalgefühl appellieren. Nur auf diesem Wege konnte man das Volk ciganisieren, körperlich und geistig in den Stand setzen, sich selbst zu helfen. Sann musste von der Türkei eine gesetzliche Regelung der Verhältnisse der IColonisten erwirkt werden, und schliesslich war nach Erreichung alles dessen eine Massenkolonisation ins Werk zu setzen.
Und nicht nur aus praktischen Gründen begann man die nationalen Gedanken 2 u pflegen. Man begann y telmehr wieder sich als Juden zu fühlen; aus den Tiefen halbvergessener Geschichte und Literatur stieg cLer alte Volksstolz empor, das Selbstbewusstsein erwachte mit der Ueberzeugung, dass es keine Schande, mein der höchste Ruhm sei, dem ältesten lebenden Felke der Erde anzugehören, dem Volke, das auf allen Gebieten menschlichen Wissens getreulich gearbeitet, ler Welt Gelehrte, Denker unl Künstler, ja sogar die Bibel geschenkt hatte. Und maji begriff, dass es aus ler gegenwärtigen Halbheit umd Zerrissenheit keine Rettung gäbe, wenn es nicht gelinge, wieder festen Boden unter die Füsse zu bekommen — geistig und körperlich. Und darum ward dfe Losung: „Wir müssen zurück/ Zurück zur etgenen Tradition, zurück zu □nseren alten Hoffnungen, zurück zu unserem noch immer leidenden und hoffenden Volke!
Im Jahre 1896 liess der damals in Paris lebende S ehriftsteller Dr. Theodor Henl eine Schrift erscheinen, „Der JudenstaatHier wurde mit offenen Worten für das jüdische Volk ein eigenes Land gefordert. Die geordnete Massenauswanderung aus den europäischen IL ändern war beschrieben, die Einrichtung des neuen Reiches, seine Vorteile für dte Gesamtheit der Juden waren dargelegt.
Das Büchlein enthielt lediglich die Anschauungen eines Privatmannes, sie sind nie und unter keinen Terhältnissen für den Zionismus massgebend gewesen, «Ler Verfasser selbst hat den entwickelten Gedanken in der Vorrede nur eine „Kombination" genannt