Nr. 17
„Die & Welt"
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die stillschweigende Voraussetzung aller modern-hebräisdier literarischer Tätigkeit Sie hätte ohne ihn keinen Sinn umd keinen Schimmer wraünftiger Berechtigung« Der moderne hebräische Schriftsteller braucht gar kein ausdrückliches zionistisches Glaubensbekenntnis abzulegen» Er mag siieh sogar für einen Gegner des Zionismus ausgeben und seifest dafür aufrichtig halten. Er ist unbewusster und unwillkürlicher Zionist, wectt er hebräisch schreibt, und jedes e«il- hebräische Literatumrerk ist eine zionistische Kundgebm g, sie mag wovon immer handeln. Slouschz hat diese Eigentümlichkeit unserer neuhebräischen Literatur oiit grosser Kraft und Anschaulichkeit herausgearbeitet.
Dr. Slouschz' Versuch mag Mängel und Lücken haben, man mag mit manchen seiner Urteile über literarische Individualitäten und Richtungen nicht einverstanden sein, sein Verdienst bleibt doch ein sehr grosses. Er lat nicht nur in einer Sprache, die immer noch die Weltsprache der Gebildeten aller Nationen ist, für das Judentum stola-es Zeugnis abgelegt und. Sympathien, oder wenigstens Achtung erworben* er hat aach als Pfadfinder ein bisher ganz ungebahntes Gebiet durchmessen und Nachfolgern bequem gangbare Wege gewiesen» Er stand einem Rohstoff gegenüber, den noch niemand nach den Regeln der europäischen literaturgeschichtlichen Forschung und Darstellung Gearbeitet hatte. Wann man das Buch liest, meint man, es müsse eben alles so sein, wie es uns darin entgegentritt, die Gliederung sei von der Natur der Dinge gegeben, iie Epochen müssten einander so folgen, solche Namen trag-&n, durch solche Merkmale gekennzeichnet sein ^ es war ai)er in Wirklichkeit gair nichts natürlich gegeben. Slouschz war es, der das Gfcnos in organische Form brachte, der es nach Epochen und Schulen ordnete und durch die Wiltais führende Linien zog. Seine Einteilungen werden, glaube ich, in den Hauptlinien bleiben, wenn sie auch im Einzelnen vielleicht kleine Änderungen und Ergänzungen erfafcrsn werden.
Und ebenso verdienstvoll wie sein Werk ist, ebenso undankbar ist es. Wer die Geschichte einer lebenden Literatur zu schreiben und bis zur unmittelbaren, heiss pulsierenden Gegen wart zu führen wagt, der kann sicher s«dn, dass er sich ungefähr alle Träger dieser Literatur zu Todfeinden macht. Die er aufgeführt hat, werden immer finden,, dass er ihnen nictat entfernt gerecht geworden ist, und die er übergangen hat, werden sein Werk für ein an ihnen und an der Literatur begangenes Verbrechen halten. Uebenües werden die meisten die guten Worte, die er etwa für andere als sie hat, als nosh schwerere Kränkungen empfinden als selbst die sie betreffenden Vorbehalte und Unterlassungen, Es gehört ungewöhnlicher Mut oder ausserordentliches Pflichtgefühl und Liebe zum Gegenstand dazu, um eich solchen Fährlichkeifcen in jungen Jahren auszusetzen, wenn man selbst noch am Beginne seiner schriftstellerischen Laufbahn steht umi von der Feindschaft der Kollegen in den Zeitungen, Zeitschriften, Almanachen und Büch erfolgen alles, sogar die wollständige moralische Vernichtung, zu besorgen hat. Dass Slouschz den Mut gehabt hat, s.ein Buch gleichwohl zsu schreiben, spricht ebenso sehr für die Festigkeit seines Charakters, wie seine Arbeit seine Darstellungsgabe, sein Talent für methodische Klassifikation und seine Beherrschung des Gegenstandes bezeugt..
Paris, im April 1903.
D r. Max lor diu.
Salomo Bacheniaeimer: Das bedeutsamste Buch der hebräischen Literatur aus dem IX. Jahrhundert (Vortxag). Niebling & Fesldbacher, Geestemünde 1903.
Auf 16 Druckseiten bietet uns dieser Vortrag eine Fülle von interessanten Mitteilungen über die Entstellung unseres Gebetbuches, schlechtweg „Siddur-Tefilloh" genannt. Aber nicht, allein das Historische; auch das Bibliographische ist von hohem Interesse, so besonders die Tatsache, dass Fr an en sich einst dem Berufe der Bachdruckerkunst widmeten, wie zum Beispiel die Gattin eines italienischen Arztös und Buchdruckers, Estellina Konat tapfer bei dem Druckendes 1480 erschienenen „BecMnath Olam" mitarbeitete.
Interessant Ist ein Vorwort zu einer im Besitz« der Buchhandlung M. Popelauer in Berlin befindlichen, 17.10 in Frankfurts a. M. gedruckten „Tefilloh", eines jüdischen Mädchens im Alter von 10 Jahren, das diese „Tefilloh" ganz allein gesetzt hat Das Vorwort lautet:
„Diese schöne mute Tefilloh, von Anfang bis zu Ende-, Hab* ich gesetzt alle nrryiK (Buchstaben) mit meine eigene Hände,
Ich, Gela, Tochtoi' des Druckers Moses, Abrahams Sohn,
Meine Mutter, Frau Freude, Tochter des seligen Herrn
Israel Cohn, Die hat mich zwischen zehn Kiw der geboren, Ich bin eine n^irö (Jungfrau) nach etwas unter zehn Johren. Nemt kein (Wunder), dass ich muss arbeiten, rpat rD HJWm ro^fi ( die weichlitehe und verzärtelte Tochter 1 Zijons) sitat im mbs (Exil) lange Zeiten.
Ein Johr geht dahin und das andere tut kommen, Und wir haben von keiner rrVtiß- (Erlösung) noch nicks
vernomm&n. Mir schrei'n'un' mir beten zu Gott alle Johr, Wer wollt', dass unsere rvibsn(Gebete)bis <w (derHerr, gelobt sei er!] sollten kommen vor ? Wie wohl ich muss schweigen still, — Ich un' meines Vaters Haus toren nit reden viel. Wie's Kol Isroel wird dergehem, Also soll uns auch geschehen, Denn der Possuk tut sagen: Es wer'n sich freuen alle Leut,
Die auf das p^n (Zerstörung) von Jeruscholajim haben tun klagen,
Un', die auf das haben vertrieben gross Leid, Die wer'n mit der nblKa wieder haben Freud."
Mit dem Vortragenden stimmen wir in den Ausruf ein: „Alle Achtung vor dieser Zionstochter!"
Die Betrachtungen des Vortragenden über die Bedeutung des jüdischen Gebetbuc hes sind treffend, und warm empfunden- Mewaker,
^etiillefoi).
Prof. Dr. Mörtitz Lazarus.
Ein D enlcer bild. Von A. toralnik.
Moito: „Nichts beständig als der Tod\
(Börne.)
Wenn wir aus dem Strudel des tosenden, hastigem sich überstürzenden modernem Lebens, durchtränkt von den allermodernsten Theorien, aus unserer gewohnten Anschauungswelt mit einem Rit&k mitten in eine einsame Strasse Roms oder Venedigs wsetzt würden, so wäre das erste Gefühl, das uns überkommen würde, das eines Befremdens, eines Schauerns. Uns gegenüber stehen Denkmäler längst vergangener Zeiten, stehen im Marmor oder Granit verkörperte Gedanken, Gefühle von Generationen, die längst verwsst, von Menschen, von denen uns eine lange Reihe von Jähren und eine noch längere psychische Entwicklung trennt, Aber je mehr wir diese Denkmäler uns ansehen, je tiefer wir den Gedanken, der in ihnen erstarrt, ist, erfassen^ desto näher rücken sie uns, desto wärmer, inniger,, verständnisvoller stehen wir ihnen gegenüber; in unseren Tiefen erwachen ungeahnte Assoziationen,. Stimmungen und Ideen, wir überspringen die Kluft, die uns von den längst verschollenen Zeiten scheidet .
Ein solches Gefühl empfinden wir immer, wenn wir an einen älteren Denker herantreten, einen Menschen also, dessen Individualität hochentwickelt, mehr oder weniger harmonisch ausgebildet war, und der von seinen inneren psychischen Vorgängen, von dem, was er dachte und was er sah, auch seinen Mitmenschen zu berichten wusste. Destomehr, wenn dieser Denker nicht mitten in dem Entwicklungsstrome, sondern abseits steht, ein von der nimmer rastenden Zeit Ueberholter ist.
Ein solcher Denker ist der kürzlich verblichene Professor Moritz Lazarus, Jeden Denker kann man von drei Seiten betrachten, die zueinander wie konzentrische Kreise sich verhalten und einander ergänzen.. Das sind seine ureigene Individualität als Denker, seine psychische Bedingtheit und Abhängigkeit als Angehöriger eines bestimmten Volkes, und schliesslich seine allgemein menschliche Charakteristik als Glted der Menschheit. Und von diesem Standpunkte nun wollen wir Lazarus betrachten, als Denker, „Jude n" und M ansehen.
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Die erste Hälfte des ZIX. Jahrhunderts in Deutschland war einer der fruchtbarsten, der glänzendsten Zeiträume in philosophischer Beziehung. Eine Reihe von Biesen des Denkens entstand, ein System nach dem anderen, eines tiefsinniger als das andere, eines grandioser, blendender als das andere wode erzeugt, nach dem Titanen des Gedankens Kant erschienen Fichte, Sendling, Hegel, die jeder nach seiner Richtung die neue Weltanschauung weiterbildeten, das Gedankennetz weiter-