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# Welt**
Nr. 17
spannen, bis in die Unendlichkeit, bis in die nebelhaften Regionen der schwärmerischen Fantasie. Und schliesslich gewann in den Dreissigerjahreh des Jahrhunderts das weltumfassende, den Idealismus bis zu seinen äussersten Konsequenzen führende und sogar das Absurde nicht scheuende \ System Hegel s, die Oberhand ünd^ dominierte in allen Zweigen der Wissenschaft und des gesellschaftlichen Lebens, Als Gegengewicht zu dieser Lehre, die den Panlogismus, die Herrschatt der Idee verkündete, die somit jede eigentliche Wissenschaft, am meisten die der menschlichen Psyche, ganz erdrückte, entstand die Lehre eines Zeitgenossen H e g e l s, eines trockenen, nüchternen Denkers — Herbarts.
Der Einheit Hegels und Schöllings setzte er eine Vielheit entgegen, dem alles umfassenden, alles begründenden metaphysischen Grundprinzip stellte er viele Urrealen, nicht reduzierbare, letzte Prinzipien entgegen. Und während die anderen Metaphysiker die Erscheinung der Materie, der objektiven Welt aus den ihr inhärenten Eigenschaften erklärten, wendet Herbart zum ersten male, die moderne Theorie der Atomistik und Energetik vorahnend, die „Methode der Beziehungen" an, das heisst, er leitet alle Erscheinungen von den objektiven Verhältnissen der Urrealen (Monaderi)untereinander,ab. Auch den kantischen Unterschied zwischen „Ding an sich 4 und „Erscheinung", der die sichtbare Welt zu einem Produkte des Subjektes macht, verwirft er mit seinem Grundsatz: Wie viel Sc h e i n, so viel Andeutung auf Sein. Deshalb sind >ihm auch Zeit und Baum nicht bloss apriorische Formen des menschlichen Geistes, sondern wirk - lieh existierende, seiende Verhältnisse. Aber einen noch, grösseren und einschneidenderen Einfluss hat H er b art auf die Entwicklung der Psychologie ausgeübt. Er verwarf gänzlich die alte raüonalistischePsycho- logie der Wolffschen Schule mit ihrer Lehre von dem „ Seelenvermögen" und machte den Versuch, eine neue, wissenschaftliche, mathematisch-exakte Lehre des menschlichen Geistes aufzustellen und bildete die „mechanistische Psychologie" aus. Die Urelemeni* der »Seele* sind nach ihm die Vorstellungen, die fortwährend [einen Kampf um die Erhaltung und die Vorherrschaft führen. Eine Vor- kann eine ander© hemmen und dann entsteht ein befühl eine Vorstellung kann eine andere bekämpfen, dann entsteht ein Willensakt ; die Vorstellungen können einander ganz verdrangen, oder miteinander verschmelzen, und aus diesem Spiel der Vorstellungen, die, um sich darwimstisch auszudrücken, ihren „struggle for life" (Kampf ums Dasein) führen, entsteht das ganze Seelenleben mit
all seinen kompliziertesten Erscheinungen.--Das war
nun die Grundlage der neuen exakten Psychologie, zu deren Fortsetzern und Anhängern Moritz Lazarus gehörte.
Die ^ ehre <* es Meisters 4 erklärt uns die Theorien des Schülers. Alle seine späteren Werke, von seinem ersten „Das Leben der Seele' (1855) bis zu seinen völkerpsychologischen Studien, fussen auf der H e r b a r t'schen Psychologie -fussen nur, aber stecken nicht darin. Lazarus war kein blinder, bedingungsloser Nachfolger; er nahm nur das, was er für wertvoll hielt, und zwar die Methode, die Dynamik der Seelenerscheinungen. Lazarus hat uns.-ktfin systematisches, streng durchgeführtes psychologi
sches Gebäude hinterlassen, seine Werke sind meistens |Mönographieü über einzelne; psychologische Erscheinungen, jdie er von seinem allgemeinen Standpunkte aus erklärte 4 und beleuchtete; Er wir nämlich icein -Metaphysiker, sondern ein exakter Psychologe. „Sofort auf die tiefsten und höchsten Probleme* eihzugeheh, ist' nicht Zeichen der Tiefe, sondern vielmehr der Oberflächlichkeit", sagt er an einer Stelle. Ich nenne ihn einen exakten Psychologen, trotzdem er nicht die Methode, welche die moderne Psychologie, die physiologische, anerkennt, angewandt hatte, obwohl er sich der neueren Psychologie gegenüber nicht ablehnend verhielt, wie manche andere Psychologen der älteren Schule. Er ist exakt, weil er nicht nach dem Ursprung, dem metaphysischen Grundprinzip dieser oder jener psychischen Erscheinung forscht, sondern nach ihrem Prozesse, nicht nach dem „Weshalb", sondern nach dem B Wie a .
Wenn er aber in der allgemeinen Psychologie nicht
so schöpferisch war, war er es in einem Zweige der angewandten Psychologie, die er geschaffen und der er den Namen gegeben hat — in der Kollektiv- oder Völkerpsychologie.
Eine vage Vorstellung, ein unbestimmter Begriff von einer derartigen Disziplin, von einer Massenpsychologie schwebte schon langej^in der Luft; schon G. B. V i c o mit seiner „ScienzaNuova", Herder, Wilhelm v. Humboldt und andere ahnten diese Wissenschaft, aber sie wirklich zu begründen, sie zu schaffen und ihr den Namen zu geben, war Lazarus vorbehalten. Schon von seinem ersten Auftreten im Jahre 1855 legte er den Grundzu dieserfruchtbaren, jetzt so blühenden Wissenschaft. Er übertrug dieselben psychologischen Gesetze, die er in der Individual- psychologie erkannte, auch auf das Gebiet des Volksgeistes, den er als ein autonomes, für sich bestehendes Wesen, freilich nicht im objektiven Sinne des Wortes, hielt. Er stellte mit einemmale dieneue Wissenschaft nicht auf den steilen Weg der metaphysischen Spekulation, sondern auf den der exakten Forschung. Und wie weit er auch vom Positivismus sonst entfernt war, lautet dennoch seine Definition des Grundpfeilers seiner Wissenschaft — des
_ _ o _________ 79w ____ o ______ fastpositivisch: „Volksgeist —
das allen Einzelnen Gemeinsame der inneren Tätigkeit . .. Die Summe alles geistigen Geschehens in einem Volke ohne Rücksicht auf die Subjekte ist der objektive Geist desselben." (Vgl, „Zeitschr. für Völkerpsych. etc.*. Bd. I u.lll und „Leben der Seele", Bd.I, p. 323—411.) Er verfolgte, gleich dem grossen Denker, seinem Freunde und Schwager H. Stein thal, die Erscheinungen der Volkspsyche bis zu ihren äussersten Anfängen, bis zur Entstehung und Entwicklung der Sprache. Erst durch die Sprache, erst durch die Zusammenschliessung einzelner Individuen, durch die Erweiterung, der Projektion der individuellen Psyche, des Jen" zum „Wir", ist der Mensch eigentlich zum Menschen geworden. Und je höher die Individualität entwickelt ist, desto stärker, edler, sittlicher ist ihr Zusammenleben mit anderen Individualitäten. (Vgl. Ueb. s.Freundschaft: (L. d. S. |TII.) Es ist daraus klar ersichtlichweiche Stellung Lazarus in der Lehre vom Sollen, in der Ethik einnehmen musste, worauf wir aber noch zurückkommen werden. (Schluss folgt.)
Begriffes des „Volksgeistes" —