Lokals wieder umkehren mußten. Während der Vorstellung ver­übten die Eindringlinge rohen Unfug ausgesprochen antisemitischen Charakters; sobald eine Erniedrigung und Peinigung Dreyfus' auf der Bühne vorgeführt wurde, sekundierten sie mit dröhnendem Bei­fall und Jubel, mit seiner fortschreitenden Erlösung und Rehabili­tierung im Stücke wuchs ihr lärmender Widerspruch, Zischen und Gejohle. Selbst der allgemein hochgeachtete jungtürkische Wort­führer hatte während seines Vortrags mit dieser rohen Obstruktion zu kämpfen, so daß er wiederholt, aber vergebens, um einige Ruhe bat. Es ist nur der Besonnenheit und Friedlichkeit der Balater Juden zu danken, daß der Abend, der eine Huldigung Risa Tewfiks für Judentum und Zionismus bedeutete, nicht in ein allgemeines Blutvergießen ausartete. Daß eine Anzahl von Taschendiebstählen im Saale nicht ausblieb, wird keinen Kenner des hiesigen Griechen­pöbels verwundern.

Wieder ein Symbol, das laute Sprache spricht: Auf der einen Seite der Türke und die Juden, die Griechen auf der andern, der Gegenseite. Er war sicherlich nicht das letztemal, daß die Geschichte diese Konstellation zeigen wird.

Purim in Konstantinopel

Überall, wo die jüdischen Massen noch naiv dahinleben, erfreut sich Purim einer großen Popularität. Mehr als das Fest der Makka- bäer, von dessen tieferer nationaler Bedeutung fast niemand weiß.

So zeigen auch die primitiven Haskieuer und Balater Juden diesen beiden Festen gegenüber ein ganz verschiedenes Gesicht. Chanuka geht fast spurlos an ihnen vorüber; man denkt an sein Geschäft wie immer, die Schulen funktionieren. Purim versetzt das Völkchen in freudige Gärung. Schon tagelang vorher sind auf den Straßen seine Spuren bemerkbar. Große Tische mit Purim-Spezialitäten, Hamantaschen, Leckereien, Nüssen und Mandeln, sind mitten über die Gasse weg aufgeschlagen, und Scharen von Kindern stehen neugierig und lüstern um sie viertelstundenlang. Zwei Tage werden ausgeprochen gefeiert. Die Schulen schließen; daheim wird wie bei uns getrendelt, und hin und her huschen die Schalach-manot-Träger.

In diesem Jahre machte sich an drei Punkten der Stadt die jüdische Moderne" am Purim bemerkbar. In Balat hielt die Schule des Hilfsvereins der deutschen Juden einen gelungenen Festakt ab. Am Sonntag in der Frühe wurden die zweihundertfünfzig Schüler in der Anstalt versammelt; Reden des Direktors in spaniolischer sowie dreier Lehrer in hebräischer und französischer Sprache setzten den tiefern Sinn des Festes auseinander und erweckten Begeisterung und Jubel. Sodann wurden in den einzelnen Klassen süße Spenden verteilt. Die glückstrahlenden Kinder quittierten mit hebräischen und türkischen Liedern. Die Feier wurde als ein Novum in der ganzen Stadt besprochen und übte auf das empfäng­liche Gemüt der Kinder tiefe Wirkung.

Den Abend vorher, zu gleicher Zeit mit derDreyfus"-Vor- stellung in Balat, gab es ein Fest der Jugend in Haskieu drüben,

das seinen Clou in einer gelungenen Vorführung der Schülertruppe desJüdischen Turnvereins Makkabi" hatte und seinen Ernst in einer enthusiasmierenden Rede des Herrn Abraham, eines der eif­rigsten hiesigen Vorkämpfer für die jüdische Turnsache, empfing.

Am Nachmittage des Sonntags endlich veranstaltete derselbe rührige Turnverein ein Fest in Pera. Als Redner waren die Herren Nissim Russo, Sekretär des Finanzbeirats Laurent, und Dr. Auer­bach gewonnen worden. Die Turnvorführungen der Knaben am Reck und Barren sowie die der Mädchen mit Blauweiß umwickel­ten Stäben waren prächtig. Ein fröhliches Theaterspiel jüdischen Inhalts sorgte für stürmischen Jubel besonders der jugendlichen Gäste der Veranstaltung.

Palästinafahrer

Man hat das Gefühl, in einem Strom zu stehen. Das wallt und zieht heran von allen Seiten. Es ist, als müßte man einfach sich selber gürten, den Stab nehmen und mit­pilgern. Es sind aber keine gewöhnlichenOle regel", die jetzt nach Palästina wallfahrten, obwohl viele von ihnen auch daran denken, den Pessach in Jerusalem zu begehen, um so endlich einmal, wenn auch nur vorübergehend, das Gelöbnis vom vorigen Jahre wahrzumachen. Es sind vielmehr fast ausnahmslos ernst rechnende, positive Männer, die mit bestimmter Absicht her­überfahren, entweder um ein geeignetes Wirkungsfeld für ihre .Intelligenz und Kapitalien in Palästina ausfindig zu machen oder auch, um sofort dort ihre Wohnstätte aufzuschlagen. In den letzten Tagen erst sind eine Anzahl russischer Ingenieure, Kaufleute und Ärzte (auch deutsche darunter!) vorbeipassiert und nahmen zum Teil bedeutende Mittel mit, die zu bestimmten Käufen und Anlagen dienen sollen. Der vorläufige Höhepunkt dieser Konstantinopel durchziehenden Flut aber war gestern der kurze Aufenthalt einer Schar von hundert russischen, meist wohlhabenden Juden, die sich aus allen möglichen Gegenden des Zarenreiches zu gemein­samer Fahrt in die altneue Heimat zusammengetan hatten. Vor diesen Palästinafahrern geht einem die ganze Gewalt unseres großen Palästinagedankens auf, und selbst unserer Bewegung Fernstehende können sich diesem Eindruck nicht entziehen. Wir begegnen auch oft Rückkehrenden, die Erez Israel soeben wieder verlassen haben; wie wir diese finden, packt fast noch mehr. Viele sind wie berauscht von dem, was sie drüben erlebt, und nicht Zionisten allein, sondern auch solche, die als Ungläubige hinüberfuhren. Sie werden daheim unsere wirkungsvollsten Werber werden.

Man muß sagen, daß unsere Massen Wenigstens den historischen Moment begriffen haben. Sie fühlen, daß die neue türkische Ära auch die neue jüdische und palästinensische Ära wird. Und sie tun entschlossen, was an ihnen liegt, um sie herbeiführen zu helfen. Wir hier am Goldenen Hörne segnen uns, daß wir den wirklichen Beginn der jüdischen Wanderung, keiner phantastisch-utopischen, riesenhaften, aber einer realen, gesunden, hoffnungsreichen, mit eignen Augen erblicken und geleiten können.

[ □□□□□□

FEUILLETON

□□□□ET] ) o

DER NEUESTE SPINOZAROMAN

Von Dr. Marek Scherlag

Es mag sonderbar scheinen, daß ein Mann, der vielleicht nie etwas, was man Roman nennt, erlebte, nun schon zum drittenmal zum Helden eines deutschen Romans ausersehen wird. Zieht man aber die Definition des Heldentums von Thomas Carlyle heran, so findet man diese Erscheinung begreiflich. Er bezeichnet nämlich in seinem BucheUber Helden und Helden­verehrung" als Helden den, der in der innern Sphäre der Dinge lebt, im Wahren, Göttlichen und Ewigen, das unter dem zeitweiligen Alltäglichen immer da ist, von den meisten ungesehen. . .

In diesem Sinne war Spinoza ein Held.

Ein Held an sich kann Dichter, Prophet, König, Priester oder was Sie wollen sein ..."

Dieser Auffassung gemäß war Spinoza Dichter und

Prophet, da er in das heilige Geheimnis des Weltalls eingedrungen ist.

Er dichtete klarste Weltanschauungspoesie und sah eine Zeit voraus, da die größten Geister und Meister Freiheit und Frieden finden würden in dem Gedanken der Einheit alles Seins.

Als Dichter und Propheten faßt ihn auch der junge Wiener Schriftsteller E. G. Kolbenhey er auf, dessen soeben bei Georg Müller in München erschienener RomanAmor Dei" sich würdig an die früheren Spinozaromane von Berthold Auerbach und Otto Hauser anreiht.

Bei Auerbach war Spinoza vornehmlich Denker, bei Hauser Mensch, bei Kolbenheyer ist er Träumer vor allem. Und wie war er in Wirklichkeit? Der