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KÖLN AM RHEIN, KAROLINGERRING 6
ELT
ERSCHEINT JEDEN FREITAG
ZENTRALORGAN DER ZIONISTISCHEN BEWEGUNG
XIII. JAHRG.
KÖLN, 4. Juni 1909 p"nr6 D'nrVtf 1"PD )"ü
No. 23.
Ein Hasten, Hetzen, Haschen, Gaukeln! Ein atemloses Wettrennen, wo derjenige Sieger bleibt, der in der kürzesten Zeit an die — Katastrophe gelangt. Nur schleunig, eilfertig, überraschen und überstürzen, von Extrem zu Extrem hinüberrennen und schnell alles verpuffen, auch die Begeisterung und die Ideen. Die Talmudisten rügten schon diese fatale Eigentümlichkeit, aber sie hat sich trotz aller Moralpredigten erhalten. Weil wir keinen Bestand haben, weil wir wie ein vom Blitz getroffenes Schiff Steuer- und segellos auf wilder Woge schwanken, hält unter uns keine einzige Idee aus bis zur Reife, bis sie Früchte trägt, sondern wird vorzeitig durch endlose Qrübelein zersetzt und zersaust, bis sie in ihr eigenes Gegenteil umgewandelt wird. Die Idee der Einheit — ja, drei bis vier Jahre kann man sich dafür begeistern, dann wird sie zu ein'er selbstverständlichen Plattheit, die keinen Ideen-Feinschmecker mehr lockt. Es ist eben nur eiq überreiztes, nervöses Feinschmeckertum und kein gesunder Appetit. Dann wird die Parole ausgegeben: Differenzierung. Das zieht einige Zeit. Ein neues Wort! Aber wie lange dauert diese Zugkraft? Die Riesenpflanze des Propheten Jona, der „Kikajon", war dauerhafter. Ein Kinema von Ideen, Strömungen und Schlagworten. Auf ein Moment möchten wir hinweisen, auf ein Moment dieser Galopp-Entwicklung, richtiger: dieser Galopp-Rückbildung. Es ist wohl ein vorübergehendes Moment, aber höchst bezeichnend.
Man würde vollständig fehlgehen, wenn man annehmen würde, daß die Oberspannungen und Übertreibungen persönlicher Natur oder das Aufbauschen eines Falles der Wahl oder Nichtwahl, diese pure Spiegelfechterei, die Herr Dr. Tschlenow in seinem in der vorwöchentlichen Nummer der.„Welt" abgedruckten sehr interessanten offenen Schreiben beleuchtete, der zionistischen Gesamtheit irgendein wesentliches Interesse abgewinnen könnte. Solche Sensationen wirbeln etwas Staub auf, den ein neuer Windhauch wieder wegweht. Nicht aus zarter Rücksichtnahme auf die in Betracht kommenden Persönlichkeiten — eine solche wäre bei einer wirklich ernsten Frage nicht statthaft — sondern weil in diesem Falle tatsächlich nichts Persönliches vorlag oder vorliegen konnte, und weil wir im Zionismus alle wirkenden
DAS GALOPP-VOLK"
Kräfte schätzen, deren wir doch nicht zu viele haben, fehlt uns das Verständnis für eine erzwungene und künstlich angefachte Polemik, die nach der Weise eines bekannten spanischen Ritters gemacht wird. Auf dieses Gebiet wird die zionistische öffentliche Meinung den Polemisierenden, denen Dr. Tschlenow heimgeleuchtet und mit denen Herr Ussischkin auch nicht einverstanden sein wird, nicht folgen. Die Streiter selbst werden auch nicht lange an diesem Kampfe einen Gefallen finden, denn am Ende meinen sie es ja gut und werden nur von einem exaltierten Übereifer augenblicklich geleitet. Aber ein Punkt muß hervorgehoben werden: die Frage der Gesamtorganisation.
Man sollte glauben, die Forderung der Einigkeit könnte gar nicht erhoben werden, ohne sofort zur Wirklichkeit zu gelangen, und dennoch wäre es leichtfertig, sich zu verhehlen, daß unser individualistischer Hang, welcher in unserer Geschichte so oft uns verhängnisvoll war, auch jetzt von Zeit zu Zeit unsere Kraft zu brechen droht, wenn wir ihm nicht mit all unserer Energie entgegentreten. Archimedes zirkelt im Sande die großartigsten Pläne zur Rettung der Stadt, während die Feinde die Wälle der Festung übersetzen. Das ist das Bild unserer Konflikte im Augenblicke, wo wir keinen andern Gedanken hegen, \on keinem andern Willen beseelt sein sollten, als das Verbindende zu suchen und das Trennende zu meiden. Nein, das wäre zu einfach! Da wird mit dem Senkblei die Tiefe der zionistischen Empfindung mathematisch genau abgemessen, und wer nicht in Worten gleich überschäumt, sondern jeden Entschluß sorgfältig erwägt und ausreift, ist ein ganz anderes Wesen als jener, welcher dasselbe will, aber der Bedenken weniger achtet. Solche Unterschiede des Temperaments und der Taktik sollen plötzlich eine unüberbrückbare Kluft bilden und ein enges Zusammenwirken in der einheitlichen Organisation verhindern, deren Stärke darin besteht, daß sie das ganze jüdische Volk umfaßt, d. h. sie sollen den Verlust aller moralischen Eroberungen herbeiführen, welche die geeinigte Partei nach harter, mühseliger Arbeit errungen hat. , Diese Sehnsucht nach Zerbröcklung ist bei denjenigen unverständlich, welche die Pflege des Nationalgefühls als ihre heiligste Pflicht betrachten.
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