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„Die x£ Welt"
Nr. 46
Die Cultusgemeinde, wie sie ist und wie
sie sein soll!
In den grössten jüdischen Gemeinden Oesterreichs finden in diesem Monate die Wahlen in den Vorstand der Cultusgemeinde statt. Vor der Wahl — das ist die Zeit, wo wir mehr denn je das Recht haben, die gerechten Wünsche laut und vernehmlich zu äussern, die ein grosser Theil der jüdischen Wählerschaft auf dem Herzen hat, wo unser Gewissen uns noch eindringlicher als sonst mahnt, alle Missstände in unserer Cultusgemeinde zu rügen und ihre Beseitigung zu fordern.
Wir werden von unserem Rechte Gebrauch machen und unsere Pflicht erfüllen. Wir Zionisten sind frei nach unten und oben. Und nichts Persönliches leitet uns dabei. Nicht einzelnen Personen wollen wir nützen oder schaden. Dazu ist uns die Sache zu ernst und wichtig. Es handelt sich uns darum, dass das alte, schlechte System gestürzt und für immer begraben werde, dass ein neuer Geist in unsere Gemeindestuben einziehe, der Geist des Judenthums. Das wollen wir, nicht weniger und nicht mehr!
Die Cultusgemeinden sind der letzte Rest jüdischen Selbstbestimmungsrechtes. Es ist unser Eins und Alles. Was sind wir Juden im Reichsrathe, im Landtage, in den städtischen Gemeinde- räthen ? Wehrlose, verlachte, bejammernswerte Opfer brutaler antisemitischer Coalitionen!
In unserer grossen Bedrängnis haben wir nur eine öffentliche Körperschaft, an die sich unsere Juden noch wenden können, wir haben nur eine einzige Volksvertretung, die israelitische Cultusgemeinde. Wir wissen es wohl : Der ungeheuren Judennoth, die überall zuhause ist, nicht nur bei uns, kann eine, können einzelne Körperschaften überhaupt kein Ende machen. Deswegen sind wir Zionisten, und darum wollen wir für das jüdische Millionen-Proletariat eine Heimstätte in Palästina schaffen. Aber die israelitischen Cultusgemeinden sollen, sie müssen alles thun. um jetzt, wo es noch keine Versorgung der leidenden Massen gibt, die sittliche und leibliche Judennoth zu lindern.
Die furchtbare Noth, der schwere Augenblick erfordert ganze Männer, verlangt ein volles Verständnis für die Grösse der Aufgaben. Hatten unsere Cultus- vorstände, die die Repräsentanten unseres jüdisch enNamens, die Vertreter unserer Ehre, unsere Berather und Helfer in aller Noth sein sollen — hatten unsere Cultus- vorstände ihre grosse Aufgabe erfasst? Erfassen sie sie heute ? Nein, und abermals nein !
Unsere Cuitusgemeir.de ist zum Zerrbilde einer öffentlichen Körperschaft, zur traurigsten Caricatur eines jüdischen Rath es geworden. Wieso es dazu gekommen ist und dass es so kommen musste, das wollen wir erklären.
Die israelitischen Cultusgemeinden waren ein Kind des politischen Liberalismus. Das war ihr Unglück, der Anfang vom Ende. In den Zeiten, wo sich selbst die christlichen Politiker an den Schlagworten von Freisinn und Fortschritt berauschten, waren die jüdischen Wortführer geradezu von einem Taumel ergriffen. Sie waren je nach dem Lande Czechen, Polen, Deutsche, man konnte nicht deutscher, czechischer, polnischer sein. Sie waren Feuer und Flamme für die Assimilation, für das Aufgehen in den verschiedenen
Nationen. Sie suchten ihr Judenthum zu verbergen und zu verdecken, dafür standen sie in den fremden Nationen in der ersten Schlachtreihe der Kämpfenden. Und doch, dieselben Leute, die in Prag aus voller Brust „Nazdar", in Wien „Heil" und in Lemberg „Koehajmy sie 11 schrieen, dieselben Leute, die vom Judenthum nichts wissen wollten, drängten sich in den Vorstand der israelitischen Cultusgemeinde. Scheint das verrückt? Die Leute wussten wohl, was sie thaten. Ihnen war die Cultusgemeinde und die jüdische Gemeindewählerschaft die Platform, von der sie emporstiegen in die Würden, die die fremdnationalen politischen Parteien zu vergeben hatten. Nicht um die Interessen der jüdischen Wähler handelte es sich ihnen. Guter Gott! Sie wollten ja mit dem Judenthum nichts zu thun haben. Um ihre ureigensten Zwecke war es ihnen zu thun. Sie wollten als politische Grössen sich Ehren und Orden verdienen, und dazu brauchten diese Parteimänner eine Masse, die hinter ihnen war. Bei den Christen fanden sie sie schwer, doch leicht bei den Juden, die selbst zum grossen Theile mit dem Strome der Assimilation schwammen, und auf die der „grosse Politiker, der auch in nichtjüdischen Kreisen angesehen war", hypnotisierend wirkte. Die Saat, die diese „Politiker" ausstreuten, ist fürchterlich aufgegangen. Wohin haben diese Männer, die die jüdische Gemeindestube zur Filiale und zum Agitations- local der fremdnationalen Parteien machten, ihre Gemeinden geführt ? Der jüdische Geist war vei flogen. Eine Jugend war herangewachsen, die, das Beispiel der jüdischen „Grössen" vor Augen, das angeborene Judenthum als Makel und Bürde empfand.
Der Religionsunterricht, der alle nationalen, jüdischhistorischen Erinnerungen geflissentiieh ausmerzte, machte aus dem Judenthum einen abstracten Begriff. Und für unsere Jugend, die die Sprache der Väter nach zehn- oder zwölfjährigem Unterrichte nicht einmal buchstabieren konnte, blieb nichts übrig, als ein Ceremonialgesetz, über das sich hinwegzusetzen sie schon in frühester Kindheit gelernt hatte. Die Rabbiner und Lehrer wurden zu Lakaien des CultusVorstandes. Entweder mussten sie das Judenthum im Geiste der Assimilation, d. h. so gut wie gar nicht lehren, oder sie mussten gehen. Und sie thaten das Erstere. So zerflatterte der jüdische Geist in alle Winde. Aber das war noch nicht alles. Die Cultusgemeinde war unter der Leitung dieser Männer aller höheren Functionen entkleidet worden, die sie hätte ausüben können. Wie sollte denn auch der israelitische Cultusvorstand für die politischen und gesellschaftlichen Rechte, für die wirtschaftliche und geistige Hebung der Juden eintreten ? Da doch die Leiter der Cultusgemeinden öffentlich hundert- und hundertmal predigten, das Heil der Juden liege im Anschlüsse an die liberalen Parteien, die am besten ihre Interessen vertreten würden, an fremde Nationen, von denen sich die Juden nicht dadurch selbst abscheiden sollten, dass sie von speeifisch- jüdisclien Bedürfnissen sprachen! Die Agenden der Cultusgemeinde beschränkten sich allmählich auf die Führung des Matrikelamtes, der Sterberegister und der Cultusangelegenheiten im engsten Sinne. Aber selbst diese kleinen Agenden, in welchem Geiste wurden sie erledigt! Das Kastenwesen feierte im Tempel seine Orgien, das Protzenthum scheute vor der Ehrwürdigkeit der Friedhöfe nicht zurück. Wer Geld hatte, wurde festlich empfangen bei der Geburt, zur Thora gerufen an den Festtagen. Wer Geld hatte, .wurde mit Orgelklang und Chorgesang getraut, und nur der Reiche wurde würdig zu Grabe getragen.
Plutokratischer Geist und politisches Streberthum, zumeist in denselben Personen vereint, beherrschten