Nr, 46

Die & Welt"

Seite 3

despotisch und absolut di^Cultusgemeinde. Eine Clique von Männern, die sich wie die Auguren verstanden, lobte und stützte sich gegenseitig, und wusste den jüdischen Gemeindemitgliedern die Grösse derbe­währten Führer" solange zu suggerieren, bis diese daran glaubten. Die Gemeindemitglieder! Wen konnte man denn noch so nennen? Die Intelligenz, soweit sie nicht selbst politisch eine P».olle spielen wollte und darum mit der Clique gieng, war dem .Judenthum, gar der Cultusgemeinschalt, völlig fremd geworden. Die Armen, die eigentliche Masse des Volkes, die keine Wähler waren und daher für den Cultusvorstand keinen Wert "hatten, wurden durch das plutokratische System von jeder Antheilnahme und Bethätigung an den Arbeiten des Cultusvorstandes ausgeschlossen und suchten zu einem grossen Theile ihr Heil und eine Befriedigung ihrer wirtschaftlichen und moralischen Interessen im An­schlüsse an die Socialdemokraten, wo sie es bald zuwege brachten, das Judenthum, das sie nur von der schlechtesten Seite kennen gelernt hatten, zu vergessen oder selbst zu schmähen. Der Mittelstand aber gieng so mit, er wusste selbst nicht recht, wie und warum,. Diese allgemeine Interesselosigkeit nützten dieFührer" weidlich aus. Sie occupierten die ersten Stellen der jüdischen Vereine und machten eine Menge Leute von sich abhängig. Sie schufen sich ferner Privilegien und führten eine Art erblichen Vorstands- und Gemeinde­adels ein. Freilich, diese letzte Sicherung erreichte nicht ihren Zweck. Denn die Söhne jener Cultusvorstände giengen den Weg der Assimilation und Entfremdung vom Judenthum, den ihre Väter gegangen waren, consequent bis zum Ziele und liessen sich taufen. Im grossen ßerathungssaale des jüdischen Cultus­vorstandes in Wien hängen die Bilder der Ahnherren der glorreichen Familien Pereira, Eskeles, Arn­stein, Königs warter. Wo sind die Söhne, wo die Enkel ? Sie sind todt es ist bei uns Juden so Sitte, dass wir die todt nennen, die durch Taufe das Judenthum verlassen.

Das gieng so durch Jahre. Dann kam die schlimme Zeit, das schmähliche Fiasco der Assi­milation, der Bankbruch des politischen Liberalis­mus. Nicht plötzlich, unvermittelt brach das antisemi­tische Unglück über die Juden herein. Mit geringen Erschütterungen fieng es an, die immer häufiger, immer heftiger auftraten. Die oratorischen Ausschreitungen der antisemitischen Politiker waren der Anfang: Die jüdischen Repräsentanten lächelten. Dann drang der Antisemitismus in die öffentlichen Körperschaften: Unsere Grössen lächelten noch immer. Man weiss, wie es dann geworden ist: Der Antisemitismus ist gross und furchtbar geworden, alle Verhältnisse des öffent­lichen Lebens beherrschend. Unsere Gemeindeführer haben längst das Lächeln verlernt. Sie sehen das Un­glück, das über die Juden gekommen ist, sie wissen auch bei sich, wieviel von diesem Unglücke sie selbst, die Führer verschuldet haben. Aber wer da glaubte, dass sie sich reuig an die Brust schlagen würden: Wir haben gesündigt und wir müssen wieder gut­machen, was wir verschuldet", der irrte gewaltig. Ein Theil von ihnen ist noch immer von den alten Wahn­vorstellungen befangen. Sie durchlaufen die Strassen Wiens, um irgendeinen Christen zu finden, an den sie sich klammern könnten, der sich ihrer erbarmen wollte. Das sind die Unvernünftigen. Die grössere Mehrheit der Cultusvorstände ist so unvernünftig nicht. Aber sie ist darum nicht klüger. Rathlos standen sie da: Die christlichenParteigenossen" warenalle", so

schauten sie denn nach den Juden, nach dem jüdischen Volke aus. Aber das hatten sie ja selbst gelehrt, sich der Cultusgemeinde und dem Judenthum zu entfremden, die Armen hatten sie ausgeschlossen, die Intelligenten abgestossen blieben nur noch die Reichen. Aus dieser entsetzlichen Noth machten nun diese Generäle ohne Heer eine Tugend. Alle ihre Sünden und Schädigungen krempelten die Wiener Cultusvorstände zu einem System um. Weil sie nie etwas fürs jüdische Volk und seine dringen­den Bedürfnisse gethan hatten, erklärten sie jetzt in ihrer Ohnmacht, die Cultusgemeinde wäre nur ein Ver­waltungskörper und wäre nie mehr gewesen. Damit speisten sie das Volk ab. Weil sie die Intelligenz vom Judenthum systematisch entfernt hatten, erklärten sie, die Intelligenz interessiere sich nicht für die Gemeinde­angelegenheiten und statuierten eine , Wahlreform", in die das sonst überall in erster Linie stehende Wahl­recht der Intelligenzgruppen nicht aufgenommen wurde. Um sich aber ihre einzige Anhängerschaft, die Reichen, d. h. die Clique und sich selbst, über Wasser zu halten, führten sie eine unerhörte Vergewaltigung der Massen und eine unqualificierbare Bevorzugung der Millionäre eine Curie der Höchstbesteuerten ein, die nun ganz unter sich stimmen.

Das ist nun die Cultusgemeinde: Ein träger Ver­waltungskörper, auf dem die Vorstandsmitglieder müssig ausruhen. Keine der unzähligen tiefernsten Fragen, die heute die Judenheit bewegen, berührt sie tiefer. Sie glauben denGemeinde-Apparat" gerettet für sich und die Clique und warten im übrigen bessere Zeiten ab, wo sie wieder von der Cultusgemeindeempor­steigen" sollen in die öffentlichen Körperschaften. Orden, Ehren, Entjudung, Assimilation das Spiel soll wieder beginnen.

Unsere Genieindeführer sind mit sich zufrieden. Auch die Reichen sind nicht unzufrieden. Wenn sie aber einen von den 125:000 Wiener Juden, die kein Wahl­recht in der jüdischen Gemeinde haben, wenn sie einen der braven Männer aus der Brigittenau oder Leopoldstadt fragen wollten, wie er mit ihnen zufrieden ist, er würde ihnen sagen:

Ihr habt uns gelehrt, wirseienkeine Juden. Wir seien Deutsche in Wien und Czechen in Prag. Hundert- und hundert­mal habt ihr uns das gesagt, so lange, bis wir selbst daran glaubten, bis wir unser Judenthum von uns warfen und für die fremden Nationen kämpften. Was ist aus dieser Politik der Assimilation und Völkerve rhetzungge worden? Die Deutschen sindgerade darumheute diewüthendsten Judenhasser, weil wir uns für Germanen gaben. Die Czechen hassen uns, weil wir Deutsche um jeden Preis sein wollten. Wohin habt Ihr uns geführt? Nach Chodo- röw, nach Holleschau und Polna! Wir hatten nie viel wahre Freunde. Aber unsere Feinde habt Ihr d.urch Eure thö- richte, fremdnationale Politiknoch mehr gegen uns aufgebracht. Ihr verstandet es nicht, uns zu sammeln und zu organi­sieren, als unsereFeindeanfiengen, gegen uns loszugehen. Ihr wäret schwächlich und zaghaft Ihr verkröchet Euch hinter die Nichtjuden, statt stolz und muthig als Juden Euch zur Wehr zu stellen. Ihr habt die Kräfte des Judenthums zer-