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,Die & Welt*

Nr. 46

splittert, Ihr habt in thörichtem Capita- listendünkel die Armen, das jüdische Volk, ausgeschlossen von Rath und That. Wohin hab t Ihr uns gebracht? Der unge­heure antisemitische Haufe hat sich über uns hergemacht und uns niedergerungen. Alles fäll-t über uns her, um uns das letzte Hemd vom Leibe zu zerren, die letzte Brotrinde unseren schwachen Händen zu entwinden. Unsere Armen schnorren und verkommen. Unsere Gewerbetreiben­den, unsere Kleinhändler, unsere Hausierer wurden durch antisemitische Verfügungen zu Bettlern. Unserelntelligenz verhungert vor den Pforten der öffentlichen Aemter, die sich ihr nicht öffnen. Die Massen des christlichen Volkes sind verhetzt und aufgewühlt bis in die letzten Schichten. Das Blutmärchen erhitzt die Gemüther der Einfältigen und weckt alle bösen Gelüste der Schlechten. Ausschreitungen gegen die Juden sind an der Tagesordnung. Man zerstört ihre Häuser, man plündert ihre Läden. Unser Handel, unsere Kunst, unser Handwerk, unser geistiges Können wird boycottiert. Blickt umher! Ueberall jüdi­sches Elend! Es wächst von Tag zu Tag, von Stunde zuStunde. E s 111 die Strassen und Gassen, es seufzt in den Spitälern, es wimmert vor den Thüren. Seht her! Schon entspinnt sich ein furchtbarer Bruder kämpf ums nackte Dasein. Die jüdischen Bettler kämpfen verzweifelt gegeneinander an, um sich den nächsten Tag, die nächste Stunde zu erhalten, ein entsetzliches Ringen ums Almosen, um die Bettstelle, um denPlatz in der Wärm e- stube. Immer blutiger wird der Kampf. Immer mehr Arme erstehen. Und Arme kommen dazu von Galizien, Russland, Ru­mänien, Hunderte, Tausende . . .

Dahin sind wir gekommen. Doch wir treten jetzt vor Euch. Helftuns! Nicht durch Almosen! Nein, nein! Gebt uns Arbeit, sorget für unsere Schwachen, gebt unseren Kindern, die in Unwissen­heit aufwachsen, Unterricht! Schützet uns gegen den unmenschlichen Boycott! Rettetuns, ehe wir im Dunkel schmach­voll verkommen! Vereinet alle Glieder des Judenthums, damit aus der jüdischen Gemeinschaft neue Kräfte erwachsen. Ihr wollt das nicht, jüdische Cultus vor­stände? Ihr antwortet uns, wie Ihr den unglücklichen ru nischen Brüdern ge­antwortet habt, Ihr wäret nur eine ad­ministrative Körperschaft? Es käme Euch nicht zu, für unsere wirtschaft­lichen, politischen, socialen Bedürfnisse zu sorgen? War.um habt Ihr dann früher unser Schicksal in Eure Hand genommen, warum habt Ihr Euch dann in den fremden Parteien für unsere Vertreter ausge­geben? Ihr glaubt nur für administrative Dinge da zu sein? Wenn wir einmal sterben, so müssen wir begraben werden. Das ist Gesetz und Recht. Aber wir wollen nicht sterben. Helft uns!

Oder wollt Ihr uns nicht helfen? Und habt uns deswegen von jeder Mitarbeit an denGemeindeagenden ausgeschlossen?

Aber es ist das: Weder wollet noch könnet Ihr uns helfen.

Da Ihr uns aber nicht helfen könnet und wollet, Ihr möget noch so ehrenhaft und begabt sein, so müsset Ihr Euren Platz verlassen und ihn Stärkeren über­lassen. Thut Ihr das aber nicht, dann werden wir Euch, ob heute oder morgen, des Amtes entkleiden, wir, die 125.00 0, denen Ihr bisher denMund verschlossen habt..."

So würde der jüdische Mann aus dem Volke sprechen. Und der Gultusvorstand wüsste ihm nichts zu antworten, denn jedes Wort ist Recht und Wahrheit.

Wir Zionisten wollen dem Rechte und der Wahrheit zum Siege verhelfen. Die Männer, die wir als Candidaten in die CulUsgemeinde entsenden wollen, werden* sich als Mandatsträger aller Glieder des j ü di s c h e n V o 1 k e s un d aller seiner Interessen fühlen.

Jeder jüdische Wähler, der dem Juden- thume aus dieser Zeit der Noth und des Unglückes hinüberhelfen will in bessere Zeiten, der wahrhafte Volksmänner in die Gemeindestube entsenden will, der die Wiedererweckung des verloren ge­gangenen jüdischen Geistes ersehnt, der die Einführung moderner socialer Einrichtungen und den Sieg demokrati­scher Principien im Leben unserer jüdi­schen Gemeinden wünscht wird am Wahltage für die Candidaten der Zionisten stimmen. F.

Die allgemeine Wählerversammlung im Musikvereinssaale.

Mittwoch abends fand im kleinen Musikvereinssaale die vom Cultus-Vorstand einberufene allgemeine Wählei- versammlung statt. Der Präsident Klinger gab seinem Bedauern über die geringe Zahl der Erschienenen Ausdruck. (Es waren von den 14.000 Wählern höchstens 300 anwesend.) Die beklagenswerte Indolenz der Wählerschaft sei daran Schuld. Freilich, er verschwieg drei Dinge: Wer diese In­differenz der Wählerschaft grossgezogen hatte, dass 120.000 Gemeindemitglieder von der Antheilnahme an den Agenden der Cultusgemeinde ausgeschlossen sind und dass endlich der Beginn der Versammlung für eine Stunde fest­gesetzt wurde, wo ein grosser Theii des Mittelstandes noch gezwungen ist, seinem Berufe und Geschäfte nachzugehen. Man konnte sofort deutlich zwei Gruppen unterscheiden: Die Anhänger des Cultus-Vorstandes, bestehend aus den Grosscapitalisten und einer Gemeindeclique, deren unwürdige Lakaiendienste für den Vorstand von mehreren Rednern zurückgewiesen werden mussten und eine zweite Gruppe, die Opposition, die aus den Zionisten, den Mitgliedern desJüdischen Volksvereines tt und einzelnen Demokraten bestand. Die Erbgesessenen hatten einen schweren Abend. Aus der Wählerschaft fand sich kein Kedner, der es gewagt hätte, für den Cultusvorstand einzu­treten. So besorgte er denn aus eigenen Mitteln das .Lob seinerThätigkeit", aber er that es mit wenig Glück und mit wenig Zuversicht. Sehr treffend sagte ein Kedner, der Cultusvorstand habe das Verdammungsurtheil über sich selbst nicht unzweideutiger fällen können, als dadurch, dass er furchtsam mit einigen entschuldigenden Worten über seine Thaten, die Wahl- und Steuerreform hinwegzukommen versuchte. Umso schärfer und vernichtender waren die An­griffe aus den .Reihen der Wählerschaft. In der würdig­sten Form, aber schonungslos wurde das ganze un jüdische Gebaren des Vorstandes,