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Die $t Weit"

Nr. 46

weberei", über die ich auf Veranlassung des galizischen Executiv-Comites im ersten Jahrgang derWeif* (1897, Nr. 8, Seite 7) ausführlich referierte, als ein grosser Aus­stand in Kolomea auf die schrecklichen Lohnzustände unter den Taleswebern ein grelles Licht warf. Damals inter­essierte man sich lebhaft für den Gegenstand, doch konnte die Sache den Bereich des Projectes" nicht verlassen, weil man zur Zeit das nöthige Capital nicht beistellen konnte. Wenn wir uns heute der Verwirklichung manchen Pro­jectes nähern, will ich die Sache nachmals zur Sprache bringen.

Allen anderen industriellen Unternehmungen voran hat die Talesweberei den Vorzug, weil ihr Endproduct ein specifisch jüdisches ist und nicht nur am Orte und im Orient Absatz finden muss, sondern auch in alle Welt exportiert werden kann. Ich habe schon seinerzeit darauf hingewiesen, dass sogenannteTürkische Talesim" in Russ­land, Galizien und allen Centren jüdischer Orthodoxie recht gesucht und gut bezahlt werden. Die Webstühle sind übrigens nicht nur für das Weben der Gebetmäntel eingerichtet, sondern auch für Erzeugung von Halstüchern und anderer Wollwaren, die en masse aus Europa nach dem Orient exportiert werden. Nur nebstbei erwähne ich nochmals die sich mit Nothwendigkeit entwickelnde Schafzucht, die unsere Colonisten in Kleinem schon heute betreiben. Man muss auch nur verhältnismässig kleines Capital für den Industriezweig verwenden. Die damals geschilderten Verhältnisse haben sich bis heute nicht ge­bessert und früher oder später werden wir wieder über die Noth in Kolomea hören.

Ich glaube, dass dieser Zweig jüdischer Industrie die vollste Aufmerksamkeit unserer berufenen Kreise ver­dient, dies umso eher, als das hiefür zu investierende Capital nur in minimaler Weise die Mittel zur jetzt beab­sichtigten Action tangieren dürfte. Meine seinerzeit über die Talesweber in Kolomea angeführten Daten sind heute mehr als actuell!

Hochachtungsvoll mit Zionsgruss

Emil Silberstein.

XII.

Lodz, 12. November 1900. Geehrte Redaction! Ich erkläre mich bereit, dem Verein zur technischen Erschliessung von Palästina beizutreten und bin gerne ge­willt, meine Kenntnisse und Erfahrungen speciell in der Tuch- und Manufacturbranche zur Verfügung zu stellen. Hochachtungsvoll H. Vogelsohn, Inhaber einer Feintuch-Fabrik.

XIIL

Sehr geehrte Redaction! Mit grösstem Vergnügen und Interesse las ich in Ihrem hochgeschätzten Blatte den ArtikelDie technische Erschliessung Palästinas". Besondere Freude aber bereitete mir der gemachte Vorschlag unseres lieben anonymen Ge­sinnungsgenossen, betreffend die Gründung einer Ver­einigung jüdisch-nationaler Techniker. Dieser Vorschlag interessierte mich umso mehr, da ich selbst diplomierter Maschinen-Ingenieur bin und auch gerne einer solchen Ver­bindung beitreten werde, um auch am heiligen Werke, zum Wohle unseres Volkes, theilnehmen zu können. Es würde mich ausserordentlich freuen, wenn mir diese hohe Ehre zutheil werden sollte.

Ich studiere jetzt an der hiesigen Universität noch Arabisch, Syrisch, Hebräisch etc., um eventuell später einer Orientreise ein wenig gewachsen zu sein.

Mit aller Hochachtung und Zionsgruss

Ing. M. I. L i e b m a n n, stud. phil., Basel (Schweiz), Clarastrasse 29.

XIV.

U n g. - H r a d i s c h, 10. November 1900. Sehr geehrte Gesellschaft! Wie viele meiner Collegen habe Jfuch ich Ihren Auf­rufzur technischen Erschliessung von Palästina" mit Freuden aufgenommen, stelle mich jederzeit ganz zu Ihrer Verfügung, bitte, mir nähere Details anher zukommen zu lassen und bleibe

Ihr stets ergebener Erwin Winternitz, techn. Chemiker und Braumeister.

Aufruf!

Jüdische Mitbürger!

Von altersher war es eine schöne und als Pflicht allgemein geübte jüdische Sitte, durch häufige Zusammen­künfte das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu stärken und lebendig zu erhalten, für Sammlung und Erhebung aller zu sorgen, in dem gemeinsamen geistigen Interesse die socialen Ungleichheiten vergessen zu machen und Einrichtungen, - die hur den Wohlhabenden zugänglich, auch den Minderbegüterten zu öffnen.

Aehnlichen Gedanken entstammte die seit mehreren Jahren in London eingerichtete sogenannte Toynbee- Halle, ein Volkshaus im besten Sinne des Wortes; eine Stätte, an welcher die Reichen und Studierten mit den Armen und Unwissenden Fühlung suchen ; ein Boden, auf dem alle Schichten der Gesell­schaft sich zusammenfinden; wo die Kinder der Reichen für jene der Armen Spiele arrangieren und sich mit ihnen in kindlicher Weise ergötzen.

Hier in der grossen österreichischen Metropole mit ihrer zahlreichen armen jüdischen Bevölkerung eine derartige segensreich wirkende Anstalt ins Leben zu rufen, ist unsere Absicht Vom 2. December an­gefangen ist die

Jüdische Toynbee-Halle" XX., Webergasse 13, Parterre (nahe der Brigittabrücke) von^7 bis 1 I S 10 Uhr abends geöffnet und jedermann zugänglich.

Die geistige Anregung, die wir bieten, soll in Vorlesungen, Vorträgen, Discussionen mit Ausschluss von Politik Concerten etc. bestehen. Das Programm für die erste Woche ist wie folgt: M o n t a g: Musik und Declamation. Dienstag: Discussion. Mittwoch: Jüdische Geschichte. Donners­tag: Vortrag. Freitag: Bibelerklärung. Samstag: Leseabend. Sonntag: Vortrag.

Wir laden hiermit zur Eröffnungsfeier der Ersten jüdischen Toynbee-Halle in Wien" auf Samstag-den 2. Dcember, abends 6 Uhr, im Locale selbst ein, und bitten alle, die sich für die Einrichtung der Toynbee-Hallen interessieren, bestimmt zu erscheinen.

Wien, 12. November 1900.

Für das Comite: Professor Dr. Leon Kellner XVni., Gersthoferstr. 89.

Zum zweiten Hilsnerprocesse.

In unserer vorwöchentlichen Betrachtung haben wir als das wichtigste Ergebnis der Piseker Gerichtsverhandlung hervorgehoben, dass durch das Gutachten der Prager czechi- schen medicinischen Facultät die ganze Haltlosigkeit all' der Argumente endgiltig dargethan wurde, mittelst welcher man versucht hat, den Mord von Polna zu einem Ritual­mord zu stempeln. Wer aber gehofft hat, dass damit in diesem Processe wenigstens die Ritualmordbeschuldigung von der Tagesordnung definitiv abgesetzt sei, der hat ge­waltig geirrt; wer sich der Meinung hingegeben hat, dass das Urtheil einer wissenschaftlichen Körperschaft, die-ernste, tiefgehende Arbeit eines ganzen Collegiums von Fachgelehr­ten, die wilde Leidenschaft zum Schweigen bringen werde, der wurde aus dieser Illusion durch die Vorgänge im Piseker Schwurgerichtssaale in unsanfter Weise gerissen. Die Hoff­nung, dass die Revision des Kuttenberger Processes nur der Ergründung und der Feststellung der Wahrheit und nur der reinen, nackten Wahrheit dienen werde, hat sich als leeres Truggebilde erwiesen. Auch der Piseker Process hat durch die Rede des Dr. Baxa seine Signatur erhalten. Hatte er auch diesmal nicht an dem Staatsanwalt einen Bundesgenossen, nahm diesmal der Staatsanwalt sogar ausdrücklich gegen die Annahmeritueller" Motive des Verbrechens Stellung, so hat Dr. Baxa, allein auf sich selbst gestellt, durch die