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Die A Welt 44

Nr. 34

Drittens die Sammlung der Juden auf dem geschichtlichen Boden ihrer Urheimat (Lebhafter, lang andauernder Beifall und Händeklatschen) in genügender Zahl, um dort nicht länger eine widerwillig geduldete Minderheit mit schlechterem Rechte, sondern eine menschlich, bürgerlich vollwertige Mehrheit zu sein. (Erneuerter lebhafter Beifall und Händeklatschen.) Sie haben geurtheilt, dass dieses dritte Mittel das allein würdige, das allein Erfolg verheissende ist, und Sie haben sich dem Zionismus an geschlossen, der sich eben die Anwendung dieses einen Heilmittels für die Leiden des jüdischen Volkes zur Aufgabe gesetzt hat. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.)

Das Bild der Zustände des jüdischen Volkes ist von uns festgelegt worden; die kleinen Zwischenfälle des Tages können daran nichts ändern und haben deshalb keine besondere Bedeutung. Es ist unser nicht länger würdig, bei derartigen kleinlichen Einzelzügen wehleidig und ächzend zu verweilen. Gestern ver­wüsteten Arbeiter in einer böhmischen Fabrikstadt Judenläden. Heute plündert und steinigt man in Jassy unsere Brüder. An einem dritten Tage erleiden Juden in N i k o 1 a j e w Grausamkeilen. An einem vierten miss­handelt man in Chicago einzelne firme Hausierer unseres Stammes. Was beweisen diese Ausschreitungen ? Dass uns überall Hass umlauert ? Dass uns überall nur die dünne Mauer der gesetzlichen Ordnung und Polizei­regel gegen die stets zum Ausbruche bereiten bösen Volksleidenschaftcn schützt? Wir wissen dies auch ohne die Einzel eweise. Und selbst wenn diese einmal ein ganzes Jahr lang fehlen würden, so wäre dies ohne Einfluss auf unser Urtheil über die all­gemeine Lage des jüdischen Volkes. Das ist cs ja, was uns Zionisten von den kindischen, kurz­sichtigen Kleinigkeitskrämern unseres Stammes unter­scheidet, die aus der Hand in den Mund wirtschaften, nicht über den Tag hinausdenken und zu einer voraus- biickenden Volkspolitik grösseren Stiles unfähig sind. Wenn einmal einige Monate vergehen, ohne dass Juden an ihrem Leib und an ihrer Habe durch rohe Gewalt­tat geschädigt werden, dann können diese greisen­haften Kindsköpfe sich mit vergnügtem Händereiben und dankbarem Augenverdrehen gar nicht genug thun; dann hört man sie mit ihrer armen meckernden Stimme jauchzen:Gottseidank! Nun geht es den Juden gut! Nun hat ihre alte Noth ein Ende!

Wenn dagegen da und dort, an einem städtischen Gesittungsmittelpunkt oder in einem weltfernen Dorfe, Fensterscheiben unter Stein würfen klirren und jüdische Gliedmassen gebrochen werden, dann ist das ein Ge­zeter! Dann ist das ein Händezusamnienschlagen! Dann thun diese sonderbaren Geschöpfe mit den Maulwurfs­augen und den SperlingsgeliLrnen (lebhafte Heiterkeil) verblüfft bis zur Fassungslosigkeit, als wäre etwas völlig Unerwartetes geschehen, worauf man unmöglich vorbe­reitet sein konnte. (Lebhafter Beifall und Hände­klatschen.)

Ist es denkbar! Eine derartige Barbarei in unserer Zeit? Das ist ja himmelschreiend!

Wir Zionisten wiegen uns nicht in Hoffnungs­seligkeit, wenn einmal ein ganzes Jahr lang an keiner Stelle des Erdballes Juden gehetzt, misshandelt und geplündert worden sind; wir stossen aber auch keine Schreie der Ueberraschung aus, wenn an unseren Brüdern Gewalttaten verübt werden. Unterbleiben diese, so ist dies ein Wunder, wofür wir von ganzem Herzen dankbar sind; denn uns geht das Leid eines jeden einzelnen Juden nahe, wenn wir unseren Schmerz auch nicht in Scene setzen. (Lebhafter Beifall.) Ereignen sich

aber die Gewalttaten, so verzeichnen wir sie mit Bitterkeit, jedoch ohne Verwunderung, als die not­wendige Folge der Lage, die wir klar erkannt und, ohne länger Selbsttäuschung zu dulden, aufgedeckt haben.

Das ist ein Punkt, den ein Bericht über die all­gemeine Lage des jüdischen Volkes immer wieder be­rühren muss.

Es scheint mir deshalb geboten, ihn einmal gründ­lich zu beleuchten, damit in künftigen Jahren ich oder mein Nachfolger in der Berichterstattung dabei nicht mehr länger zu verweilen genötigt seien:

Sie wissen, dass die Geologie die Bildung der Erdoberfläche durch zwei entgegengesetzte Theorien zu erklären versucht hat, die man kurz als die vulkanische und die neptunische bezeichnet. Nach der vulkanischen Theorie verdanken Meere und Festländer, Gebirge und Cesteinschichten ihre Entstehung furchtbaren Um­wälzungen, Erdbeben, vulkanischen Ausbrüchen, dem jähen Versinken und Auflauchen von Erdteilen, Kata­strophen, die in Abständen von hunderttausenden oder Millionen Jahren plötzlich eintreten und mit einem Schlage das Antlitz der Erde verändern.

Die neptunische Theorie dagegen nimmt an, Länder und Seen und alle ihre Einzelheiten seien das Werk dauernder Naturkräfte, die geräuschlos, doch unablässig an der Arbeit sind, jeden Augenblick nur ganz winzige Veränderungen setzen, jedoch nach Jahrtausenden, ruhig und gleichmässig Festländer und Gebirge aufgebaut und abgetragen, Meere vertieft und ausgefüllt haben. Die vulkanische Theorie ist melodramatischer; sie macht aus der Erdgeschichte ein ungeheures Spektakelstück und ein solches ist des Beifalls der Galierie immer sicher (Heiterkeit). Die neptunische Theorie ist minder theateralisch, aber sie ist überzeugender für die ernsten Geister, die geübt sind, das gewöhnliche Verfahren der Natur zu beobachten.

Unter denen, die über die jüdische Geschichte in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein Urtheil ab­zugeben haben, finden Sie nun gleichfalls Vertreter der vulkanischen und neptunIschen Theorie.

Jene, die Vulkanisten, legen nur den zeitweiligen grossen Gewalttätigkeiten gegen die Juden Bedeutung bei. Für sie erschöpft sich die Geschichte des jüdischen Volkes in der Geschichte der jüdischen Katastrophen. Für sie schreitet sie von der Zerstörung des Tempels zu den Metzeleien der Kreuzzüge, von der Austreibung aus England und Frankreich zu der Verjagung aus Spanien, von den Schlächtereien Chmielnieckys zu den blutigen Verfolgungen der ersten 80er Jahre. Die Neptunisten dagegen und zu dieser Gattung zähle ich mich schreiben den Katastrophen, und wenn sie noch furchtbar waren, nicht dieselbe Wichtigkeit zu und erkennen sie nicht als die einzigen oder auch nur als die hauptsächlichen Kräfte an, die die neuere jüdische Geschichte bilden.

Für uns sind die gewöhnlichen Verhältnisse, die uns gleichmässig und dauernd umgeben, die Einflüsse, die das Schicksal des jüdischen Volkes gestalten.

Alle Völker, auch die ruhmreichsten und mächtig­sten, haben in ihrer Vergangenheit schwere Unglücks­fälle, Umwälzungen, Bürgerkriege, zermalmende Nieder­lagen, die mitunter so furchtbar waren, dass eine Erholung von ihnen unmöglich schien. Sie haben ihnen auf die Dauer dennoch nicht geschadet und den auf­steigenden Gang ihrer glänzenden Geschicke nicht gehemmt.

Warum? Weil zwischen den Schicksalsschlägen immer Jahrhunderte oder wenigstens Jahrzehnte ruhigen