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„Die Hl Welt"
Nr. 34
Rede des Vizepräsidenten Dr. M. Kasten.
Meine Damen und Herren!
Ich hatte eigentlich erwartet, dass unsere Frage der Cultur ein Theil der Organisation sei; denn that- sächlich handelt es sich doch darum, nicht bloss die materielle Kraft unseres Volkes zu organisieren, sondern besonders die geistige Kraft unserer Nation zu wecken und zu organisieren. Ich sehe aber, dass ich jetzt das Wort ergreife, um Ihnen mitzutheilen, was die Cultur- Commission Ihnen mitzutheilen hätte, eigentlich wenig und doch viel, wenig von dem was geleistet, viel von dem, was erhöht wird.
Ich komme mir wie ein Träumer vor, und ich muss ein gestehen: ich glaubte, Ihr werdet mir zurufen, wie es in alter Zeit geschehen ist: „Da kommt der Träumer wieder, um uns von seinen Träumen zu erzählen.“ Und thatsächlich ist auch unsere Culturfrage der grosse prophetische Traum unseres Volkes, die grosse prophetische Vision, welche unser Volk durch die Jahrtausende gehegt, das grosse Ideal, welches seinem geistigen Auge zeitlebens vorgeschwebt hat und tief das Leben unseres Volkes beeinflusst hat. Jedes Volk und jeder Mensch ist durch das Ideal beeinflusst, welches lange vor seinem Gesichtskreis weilt. Wenn ein Volk, von der* Schönheit der Natur ergriffen, schöne Kunsterzeugnisse hervorbringt und sein Auge und Ge- rnüth stets daran labt, so wird unwillkürlich seine Seele, sein Geist denselben Motiven der ästhetischen und natürlichen Schönheit folgen, und Schönheit wird das Resultat sein, und wenn ein Volk sein Auge stets gebannt hält auf ein wüstes Ideal wie Rache und Wuth, Revanche und andere ähnliche Leidenschaften, dann ertödtet dieses wüste Ideal alle hohen Bestrebungen und das Volk sinkt von Stufe zu Stufe und verliert seine Berechtigung, eine grosse Rolle in der Geschichte der Menschheit zu spielen.
Wir haben aber immer ein grosses Ideal vor Augen gehabt, unvergleichbar mit den Idealen, welche andere Völker beeinflusst haben, und wir verfolgten das Ideal unverzagt durch die Jahrtausende. Denn wir träumen, träumen von einem eigentümlichen Reich auf Erden, wo Gerechtigkeit und Liebe herrschen sollen, und wir nennen das ,.Gottesreich auf Erden'* 4 das Ideal des jüdischen Volkes. Es ist ein ganz anderes, es sticht vollständig ab vom Bestreben der ganzen Weit, und darum sind auch wir stets anders geblieben, und, ich betheuere es von hier aus, höher geblieben als alle Nationen der Welt. Denn es ist keine Nation, die sich mit uns vergleichen kann. In Erniedrigung, in Schmach, in Verfolgung, in der geistigen Vermeidung, die gegen uns versucht worden ist: nichts ist erreicht worden, und wir sind unserem Ideale heute und gerade als Zionisten treu geblieben, wie es unsere Vorväter vor tau-end Jahren waren. Natürlich, Sie werden mich fragen : „In welchem Zusammenhang steht dieses Gottesreich auf Erden mit der zionistischen Bewegung?“ Natürlich im. innigsten Zusammenhang. Das eine ist das Hoffen, das andere ist die That. Wir haben stets vor unserem geistigen Auge das Bild der glorreichen Zukunft, und das ist das Geheimnis unserer Ewigkeit und Unverwüstlichkeit. Wenn auch unsere Körper gebrochen wurden, unser Geist ist nie gebrochen worden. Als der Tempel in alter Zeit zerstört wurde, da verlangte der Führer der geistigen Partei von dem römischen Sieger nicht die Befreiung der Sclaven, nicht das jüdische Volk, er verlangte den jüdischen Geist frei zu setzen; er erbittet eine ganz bescheidene Sache, bloss eine Schule zu eröffnen. Die Pforten, einmal geöffnet, sind nie geschlossen worden und durch diese Pforte ist der
Geist der Menschheit gezogen (stürmischer Beifall), um geläutert wieder herauszukommen. Aber wir haben auch nach allen Seiten hin als Lehrer, Lehrer in geistig höchster Bedeutung, gewirkt. Denn wir haben gezeigt, wie ein Volk zerstreut, geknechtet, verfolgt, doch imstande ist, einem idealen Ruf, wie er einmal erschollen ist, dem Zionismus nicht inslinctiv, sondern mit tiefem Verständnis zu folgen und sich hier zu vereinigen (Beifall). Es ist notwendig, dass ich darauf besonderes Gewicht lege, hier, wie ich cs voriges Jahr getan habe, schon aus dem Grunde, weil wir in unseren Gehalten und in dem Programm, das uns vorgelegt worden ist, uns zu sehr mit nichtidealen Fragen beschäftigt haben. Es sind die materiellen Bedürfnisse, es ist das momentan Notwendige in dep Vordergrund geschoben worden. Aber es soll nicht gesagt werden, dass wir hier Zusammenkommen, um uns zu organisieren oder um Geld zu schaffen. Wir kommen hier zusammen, vor allem um zu erklären, dass dies nur Nebendinge sind, Mittel zum Zweck, der Zweck jedoch hoch und erhaben über diesen kleinen Fragen steht (Beifall), denn wir arbeiten an der Befreiung des Geistes. Wir arbeiten an allem, was gross und mächtig ist in seiner geistigen Erscheinung. Und darum soll die Culturfrage hier nicht nur gestreift, sondern auch erwogen werden, in ihrem Zusammenhänge mit unserer jetzigen Stellung. Ich fieng an und sagte: „Ich komme eigentlich mit leeren Händen, aber mit vollem Herzen.“ Mit leeren Händen! Natürlich, ein wirklicher Fortschritt besteht darin, wenn wir systematisch, ordnungsgemäss Vorgehen, wenn wir nicht alles auf einmal erreichen wollen, wenn wir lernen, Disciplin unserem Geist, Disciplin unserem Volke aufzuerlegen, wenn wir lernen, langsam in der Entwicklung den Fortschritt zu begreifen und zu unterstützen.
Warum haben wir nichts geleistet ? Meine Freunde! Wenn die Uhr aufgezogen wird, dann steht sie, und jetzt wird die Uhr aufgezogen, die uns die Stunde unserer Befreiung schlagen soll, und darum steht sie diesen Augenblick. (Beifall, Heiterkeit.) Wir sind mit dem Aufziehen der Uhr beschäftigt. (Heiterkeit.) Wir sind mit dem Heranziehen der Geister beschäftigt Wir sind jetzt daran, unserem Volke zu sagen, was wir wünschen und in welcher Weise wir es zu verwirklichen trachten. Momentan können wir nur den frommen Wunsch äussern. Unsere Mittel sind beschränkt, gegenseitiges Verständnis existiert noch nicht, die Geister sind 41 och nicht geklärt, den Katechismus für das Judenthum können wir nicht schreiben; in religiöse Fragen können wir uns nicht mengen. Wir lehren bloss den Respect vor der heiligen Lehre, aber bringen diese Frage nicht in die Debatte und Entscheidung; denn — die Entscheidung ist schon längst getroffen. (Beifall).
Aber wir behaupten, wenn wir auch jetzt alle uns auf einem Schiffe befinden, welches von den Wellen des Hasses getrieben wird, dass es doch einen Leucht- 'tliurm gibt, der uns zeigt, wo der Hafen der Ruhe, der Befriedigung, der geistigen Seligkeit ist: das ist die Cultur, das Bewusstsein, dass es irgendwo ein Centrum des Lichtes gibt, welches uns den geraden Pfad im Leben weist. Natürlich gibt es auch eine Aftercultur. Es gibt auch, wie es alle diejenigen wissen, welche an den Küsten der Meere wohnen, falsche Lichter, die aufgesteckt werden von Feindeshand, um die Schiffe von der richtigen Fahrt abzulenken und vielleicht zerschellen zu lassen an den Felsen der Unwissenheit, des Fanatismus und der Intoleranz. Das ist keine Cultur. Dagegen sträuben wir uns. Was wir anstreben, ist den Pfad zum richtigen Hafen, zu jenem Leuchtthurm zu erreichen. (Beifall.) Aber hüten müssen wir uns, dass