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„Die # Welt"
Der Waisenknabe.
Von J. L. P e r e z. (Warschau.) Aus dem Jüdischen; übertragen von M o r i z Hermann.
(Schluss.) V.
Wer weiss, wie die Scene geendet hätte, wenn nicht plötzlich von anderer Seite Hilfe erschienen wäre. Auf die Kanzel neben der heiligen Lade schwang sich ein junger Mensch in einer Pelzmütze, mit flatternden, buschigen Ohrlocken und mit lebhaften, gleichsam laufenden Augen, über denen eine mächtige Stirne sich wölbte.
Eine Bewegung gieng durch die Menge.
„Seht! Seht! Chaim Schmiel wieder!"
In demselben Augenblicke wandten sich die Blicke aller vom Tische zur heiligen Lade.
Sogar Reb Schmerl, der bis dahin unbeweglich über seinem Talmudfolianten gesessen war, wurde aus seiner Ruhe aufgescheucht und zog die Augenbrauen in die Höhe.
„Wer? Wer?" fragte er mit seiner süssen, jedoch nicht mehr festen Stimme.
„Chaim Schmiel! Chaim Schmiel!" wurde ihm von allen Seiten Bescheid.
„Meine Herren!" begann inzwischen der junge Mann. „Ich bitte um Gehör für einige Worte. Der Ewige ist, wie es in unseren heiligen Büchern heisst, ein Vater der Waisen. Ihr dürfet daher den Kleinen nicht verlassen, sonst werdet Ihr ä selbst einst Waisen zurücklassen."
„Frechheit! Herunter von der Kanzel!"
„Schreit nicht, meine Herren! Ein wahres Wort will ich sagen und ein gutes Wort ..."
Ein „gutes Wort" war die Menge bereit zu hören.
„Meine Herren ! Ihr seid das Volk des Mitleides ! Bei Euch ist das jüdische Herz! Weshalb geschieht also nichts,? Ist vielleicht ein Loch in Eurer Tasche ?"
Die Rede erweckte allgemeine Heiterkeit.
„Lacht nicht, ich meine es ernst! Ihr habt kein Geld, Ihr seid eine arme Gemeinde. Ihr habt nichts, Reb Schmerl hat nichts! Gut. dann will ich das Geld geben , .
Bei diesen Worten wurde Reb Schmerl noch aufmerksamer. Er schloss den Talmudfolianten und blickte unruhig nach der Kanzel.
„Joine!" rief der junge Mann zum heiligen Tisch hinüber, „weisst Du bereits einen Platz für den Knaben ?"
„Gewiss!" erwiderte Joine, der inzwischen zu sich gekommen war.
„Was verlangt man für die Woche?"
„Einen Rubel für die Woche."
„Ausgezeichnet! Ich zahle das Geld ! Ich zahle jede Woche einen Rubel für den Waisenknaben."
„Du? Du?" rief alles durcheinander. Man wusste, dass der junge Mann keinen Heller im Leibe besass.
„Nicht mein Geld, hört, Meine Herren, nicht mein Geld zahle ich, sondern das Geld meines Schwagers Eisikl."
„Aha !" rief man von allen Seiten. Man ahnte bereits den Zusammenhang. Der Schwager Eisikl besass ein Schächterdipiom.*)
Reb Schmerl erblassie und mit flammenden Augen drängte er sich zur Kanzel. Bevor er sich jedoch durch die Menge durchwinden konnte, fuhr der junge Mann mit grosser Lebhaftigkeit fort:
„Mein Schwager verpflichtet sich, jede Woche einen Rubel für den Knaben zu zahlen bis er Bar-Mizwah wird, meinetwegen bis zu seiner Hochzeit ..."
*) Die Ausübung des Berufes eines diplomierten Schächters ist an die Bewilligung des Gemeindevorstandes geknüpft» Der Schächte Eisikl, ^lcheoibjsjieiv .bisher jy^rr ge&ens um diese Bewilligung/ angesucht haSte* hoift» dieselbe vom Volke durch das durch seinen Schwager eben gemachte Anerbieten zu erlangen. (Anm. d. Uebers.)
Und da er bereits Reb Schmerl auf der ersten Stufe gewahrte, beschleunigte er seine Rede bis zur Athemlosigkeit.
„Nur für Geflügel! N# für Geflügel! Sagt, dassvjto einverstanden seid!" " ' ^ ' * ' J 'f^
Die Menge fand Gefällen an. diesem Streich und ,rief 1 frohgelaunt:
„Einverstanden! Einverstanden! Wir bewilligen!"
Reb Schmerl hatte bereits alle Stufen erklommen und war daran, den jungen Mann am Rockkragen zu erfassen/ blieb jedoch, als er von allen Seiten die Rufe des Einverständnisses vernahm, einen Augenblick wie betäubt.
„Eisikl, geh schachten", rief der junge Mann und verliess eiligst die Kanzel zur Rechten, um mit Schmerl nicht zusammenzutreffen.
Und während Reb Schmerl zu Reb Kloinemis eilte, um ihn über sein Stillschweigen zur Rede zu stellen, stand bereits derselbe junge Mann in dem Talis gehüllt vor dem Gebetpulte und rief die ersten Worte des Abendgebetes.
Die Menge beganti sich augenblicklich zu schütteln und erwiderte in heiterster Stimmung die gerufenen Worte.
Die Stimme Reb Schmerls versank im Lärm der Betenden und Reb Kloinemis hielt noch immer die Hand über das Gesicht ...
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Heidelberg. Am 26. v. M. hielt Herr David J eil in aus Jerusalem im Locale der zionistischen Ortsgruppe, Schiffsgasse 22, einen Vortrag über „Die Lage der Juden in Palästina". Der Vortragende entrollte in einer äusserst gebildeten Sprache^ in seiner liebenswürdigen und dabei tiefgehenden Weise, unter lebhaftem Beifall ein Bild der ökonomischen, rechtlichen und culturellen Zustände unter unseren palästinensischen Brüdern. Wie bekannt, bereist Herr Jellin in den Angelegenheiten der in Jerusalem begründeten jüdischen Central - Bibliothek die grösseren Städte Europas und Amerikas, und seine vornehme sympathische Persönlichkeit wird wohl nicht wenig zur Förderung dieser Institution beitragen. Dem Vernehmen nach hat Frau Professor S c h a p i r a sämmtliche Bücher ihres verstorbenen Mannes der Bibliothek zum Geschenke gemacht. .....
Galatz. (Das Centralcomite der Zionisten in Rumänien) hat zu Beginn des vorigen Monats eine General-Versammlung einberufen, die aber wegen der damaligen Schneeverwehungen und Verkehrsunterbrechungen nicht stattfinden konnte. Die „Egalitatea" und „Rasaritul" bringen nun im Auszuge sehr wissenswerte Mittheilungen, die seit dem IV. Congresso den Delegierten zu machen waren, darunter über das Syndicat für industrielle Unternehmungen, über das Ein- wanderungs verbot in Palästina, über, die Jüdische C olönlalb an k, über den SehekeT und über den 70. G e b u r t s t a g d e s D r. R ü 1 f.
Mähr.-Ostrau. Am 3. Februar hielt der bekannte Literarhistoriker Prof. Dr. Ludwig Geiger aus Berlin im hiesigen Festsaale des Feuerwehrhauses einen Vortrag über „Goethe und die Jude n". Herr Professor G ei g e r bemerkte gleich zu Beginn, dass er über „Goethe .und die Juden" nicht als Jude, sondern nur als Historiker sprechen wolle. Er versuchte aus Goethe um jeden Preis einen „Philosemiten" zu machen, doch ist es leider nuivein Versuch geblieben. Goethe wird schon mit dem geringereu Ruhme eines grossen Dichters vorlieb nehmen müssen . . . Es ist zwar Herrn Professor Geiger gelungen, die Beziehungen Goethes zu dem Judenthume in der (lenkbar gründlichsten Weise zu schildern, doch war die. c juden- freundliche Gesinnung Goethes daraus . keinesfalls ersichtlich. Ich weiss nicht, wie man in der iHeimat des Herrn Prof. Geiger über derartige Vorträge v denkt hier in Oesterreich findet man so was jedenfalls geschmacklos. Herr Professor Geiger hat auch noch in andere^ Hinsicht das hiesige Publicum verkannt, indfjn er ,nämlich; fortwährend betonte : „Wir sprechen über G o e t h e sowohl: als Deutsche, wie als Juden." Der Herr Vortragende hätte, daahnbilUgbbe^Äken sollen* dass das Zusanmiei^warfen vpn- Jj^(ften MU«tdH;ö$jittftrfienl iö »einen^Togif o-NinTOs überwundener Standpunkt oder, -mit Goethe zu sprachen, ,,'ies .Landes nicht der Brauch" ist ; * S,;jff.t . :