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Was ist nun der wesentliche Inhalt des Gesetzes vom Erlassjahre? Das erste Princip, nach welchem die Ver- theilung der durch die Arbeit gewonnenen Güter im jüdischen Gesetze geordnet war, lässt sich folgendermassen formulieren :
„jedes Individuum hat da«* Recht, seine Arbeits- und Erwerbskräfte im Rahmen der bestehenden politischen, socialen und volkswirtschaftlichen Organisation frei zu entfalten; im Rahmen dieser Organisation den vollen Ertrag seiner Arbeit zu beziehen und die gewonnenen Güter nach seinem Gutdünken zu verwenden. 1 *
Nun aber kommt die Einschränkung des Erlassjahr- Gesetzes : „Um die dauernde, übergrosse Anhäufung der durch die Arbeit gewonnenen Güter in den Händen gewisser Familien zu verhindern und die übrigen vor dauernder, vollständiger Entblössung von denselben zu schützen, soll der Genuss dieser Güter dem Individuum und seinen Nachkommen nur für eine gewisse Zeitepoche in ungeschmälertem Masse gesichert bleibe n."
Die je sieben Jahre zur Beseitigung der drückendsten ökonomischen Missstände unter gesetzlichem Zwange vorgenommene Ausgleichung der Besitzverhältnisse umfasste vornehmlich drei Momente: den Erlass der Schulden — die Freilassung der Sclaven — die positive Betheilung der Armen.
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„Je sieben Jahre sollst Du ein Erlassjahr halten.
Also soll es aber zugehen mit dem Erlassjahre : wenn einer seinem Nächsten etwas geliehen hat, so soll er es erlassen und seinen Nächsten und Bruder nicht zur Bezahlung anhalten, sobald das Erlassjahr dem Ewigen zu Ehren ausgeworfen ist". „Den Ausländer kannst Du zur Bezahlung anhalten ; was Du aber bei Deinem Bruder zu fordern hast, musst Du erlassen." 1 )
Die volle Tragweite dieser Anordnung tritt erst dann zutage, wenn man sich an das Gebot erinnert, welches zur Gewährung von Anleihen an Dürftige verpflichtet, auch wenn das Erlassjahr bald bevorstünde. 2 ) Die Verfügung über den Schuldenerlass kommt hauptsächlich der arbeitenden, nicht ganz mittellosen Gasse zugute, den Taglöhnern, selbständigen Handwerkern, kleinen Gewerbetreibenden und Kaufleuten, deren Einkommen manchmal zur Deckung ihrer Bedürfnisse nicht ausreicht.
Wer aber in ein derartiges Elend gerieth, dass er seine Person zu verkaufen gezwungen war, hat vom Erlassjahre die Wiedererringung des höchsten Lebensgutes, der Freiheit, zu erwarten.
„Wenn sich Dein Bruder, ein Hebräer oder eine Hebräerin, Dir verkauft, so soll er Dir sechs Jahre dienen, im siebenten Jahre aber sollst Du ihn frei losgeben. 41
„Und lass es Dich nicht schwer drücken, dass Du ihn frei losgibst, denn er hat Dir als zwiefältiger Taglöhner sechs Jahre gedient." 3 )
Neben dem Erlasse der Schulden und der Freigebung der Leibeigenen gebot das siebente Jahr den Besitzenden die Abtretung ihres durch Nichtbebauung des Bodens allerdings verringerten Jahresertrages und überdies die Ausstattung der Freigelassenen.
„Was von selbst wächst, sollst Du nicht ernten, und die Trauben, so ohne Deine Arbeit wachsen, sollst Du nicht lesen.* „Sondern die Feier des Landes sollt Ihr darum halten, dass Du davon essest, Dein Knecht, Deine Magd, Dein Taglöhner, Dein Hausgenosse, Dein Fremdling, der bei Dir ist." 4 )
„Sechs Jahre sollst Du Dein Land besäen und seine Früchte einsammeln; im siebenten Jahre sollst Du es ruhen und liegen lassen, dass die Armen Deines Volkes davon essen; und was überbleibt, lass' das Wild auf dem Felde essen. Also sollst Du auch thun mit Deinem Weinberge und Oelberge." 5 )
*) Deut. XV, 1—3; Maimonides: „De juribus anni septimi et jubilei". Cap. IX.
2 ) Deut, XV, 9-10; „De juribus", Cap. IX, S. XXIII.
3 ) Deut. XV, 12, 18.
4 ) Levit XXV, 5—6.
5 ) Exod. XXIII, 10—11. Im „Jad-Hazaka« finden wir nachfolgende Fassung dieses Gesetzes : Wer die Früchte seiner Felder in seinem Hause versammelt, ist verpflichtet, sie allen zur Verfügung zu stellen, denn es steht geschrieben : dass die Armen Deines Volkes davon essen. „Interim pauca admodum iliorum, quae de bonis publicis auferunt, in aedes proprias introducere licitum est." („De juribus", Cap. IV, S, XXL)
Ueber die Ausstattung der Freigelassenen heisst es: „Wenn Du ihn frei losgibst, sollst Du ihn nicht leer von Dir gehen lassen, sondern sollst ihm auflegen von Deinen Schafen, von Deiner Tenne, von Deiner Kelter, dass Du gebest von dem, womit Dich der Herr, Dein Gott, gesegnet hat. uß )
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Wir haben die Bestimmungen des Erlassjahres in ihren Grundzügen dargestellt, so wie wir sie noch in der Bibel verzeichnet finden. Man weiss, dass der Talmud und der Jad-Hazaka aus diesen Cardinal-Verordnungen ein detailliertes Gesetz entwickelt haben, welches alle praktischen Fälle, alle strittigen Punkte berücksichtigt und so die Durchführbarkeit der wesentlichen Bestimmungen ermöglicht. Wenn wir also die Bedeutung dieser Bestimmungen zü würdigen versuchen, so sprechen wir nicht von einem legislatorischen Hirngespinst, sondern von einer praktischen Einrichtung, weiche volle legislatorische und historische Wirklichkeit erreicht hat.
Das Erlassjahr ist nichts anderes, als die Solonische Massregel der Seisachtheia — zum System erhoben. Was in Griechenland, was dann in Rom von manchen weisen und humanen Staatsmännern unter dem Drange der furchtbar verzehrten socialen Verhältnisse als einmalige Massregel zur Besänftigung der ergrimmten Volksmasse verwendet wurde, führt das jüdische Gesetz als dauernde Einrichtung ein, um socialen und wirtschaftlichen Convulsionen vorzubeugen. Prüft man die Verordnungen des Erlassjahres, so sieht man, dass sie gerade jene Momente betreffen, welche in anderen Staaten die Hauptquelle der grossen socialen Kämpfe bildeten: die Monopolisierung der Bodenfrüchte durch die Reichen, die Verschuldung der Arbeitenden und Armen bei den Reichen, endlich die Schuldenhaft, welche aus der Verschuldung entsprang.
Die Ausgleichung der wirtschaftlichen Verhältnisse, welche — ganz abgesehen von der ununterbrochenen Wirkung der freiwilligen Wohlthätigkeit — ja sieben Jahre unter gesetzlichem Zwange vorgenommen wurde, war keineswegs so minimal, dass sie als Scheinausgleichung gelten konnte. Wenn die Leibeigenen ihre Freiheit wiedergewonnen und von ihrem früheren Herrn für ihr neues, selbstständiges Leben ausgestattet wurden ; wenn die Armen von ihren Schulden befreit wurden ; wenn die Dürftigen das im Lande frei Wachsende für sich einheimsen durften: so fand je sieben Jahre ein gründlicher Umschwung der wirtschaftlichen Verhältnisse statt, die angehäufte Unzufriedenheit, die sociale Spannung löste sich, neuer Lebensmuth trat in die Gemüther der Gedrückten, und ein Hauch göttlicher Gerechtigkeit gieng durch die Herzen der Reichen.
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In den Verordnungen des Erlassjahres haben wir den letzten Abschnitt jenes grossen Gesetzes dargestellt, weiches im altjüdischen System die gesammte wirtschaftliche Organisation beherrscht.
Der Talmud und der Jad-Hazaka fassen nur die Bestimmungen des Erlassjahres und die des Jubeljahres als zusammenhängend auf und behandeln das Sabbath-Gesetz getrennt. Sie übersehen es, dass auch die Einrichtung des Sabbaths einen wesentlichen Bestandtheil des grossen, trotz seiner Vielseitigkeit in sich einheitlichen mosaischen Regulierungs-Systems bildet.
Der siebente Tag, das siebente Jahr, das siebenmal siebente Jahr; der Sabbathtag, das Sabbath- und Erlassjahr, das Jubel- oder Wiederherstellungsjahr 7 ) mit dem ganzen Complex ihrer speciellen Bestimmungen, sie entspringen alle aus einer und derselben Idee, welche jedem unbefangenen Beobachter des socialen Lebens so gerecht und so natürlich erscheinen muss, dass es fast unbegreiflich wird, warum sie nur in der mosaischen Verfassung verwirklicht ist.
So wie das Individuum, wenn es nicht vernichtenden Krankheiten anheimfallen und sich rasch verzehren soll, dem Zustande seines Organismus stetige Aufmerksamkeit schenken muss ; so wie das Individuum sich nicht passiv, gedankenlos den Einflüssen der Arbeit und des Lebens hingeben kann, sondern Ruhezeiten einhalten, seine Gesundheit und Lebenskraft stetig schützen, von Zeit zu Zeit eine reinigende Heilung und Erneuerung des Organismus zur Herstellung des Wohlbefindens und Gleichgewichtes aller seiner Functionen unternehmen muss; ähnlich muss die Gesellschaft, geleitet von dem Bewusstsein, dass das
•) Deut. XV, 13-14.
7 ) Das Gesetz des Jubeljahres behandle ich eingehender in einem besonderen Abschnitte, der hier nicht Raum finden konnte.