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Die # Welt"

Nr. 28

sehr radieale Mittel anwenden müssen, um eine vollständige Gesundung der Verhältnisse zu erreichen. *

In erster Reihe hätte sich die Abschaffung der Leibeigen­schaft, die Gewährung grösserer Freiheiten an die Bauern, die Einschränkung der Willkür der Gutsbesitzer als unumgäng­lich nothwendig herausgestellt. Aber das konnten und wollten die damaligen Machthaber nicht thun, da sie selber Guts- und Sclavenbesitzer waren, ihre eigenen Inter­essen also in Frage kamen. Es war daher nöthig, eine andereUrsache" zu finden, die ausserhalb dieser gesell­schaftlichen Anomalien stände, und der man die ganze Schuld zuschreiben könnte. Schon bei der Ertheilung des obenerwähnten Auftrages wurde dem Minister Derzawin von obenher der Wink gegeben, wo er dieUrsache" zu suchen hätte. Nichts war für den Minister leichter, als diesem Winke Folge zu leisten. Er hatte es nun nicht mehr nöthig, ernste, gründliche Nachforschungen anzu­stellen ; die Ursache aller Ursachen war gefunden: die Juden, die die Bevölkerung ausbeuten, die Geistlichkeit und das Beamtenthum verderben etc. etc. So constatiert z. B. Derzawin die elende Lage der Bevölkerung in Weissrussland, gibt verschiedene Ursachen für diese triste Lage an, wie z. B. die, dass die Polen träge seien, ihre Aecker vernachlässigen, der Industrie abhold, Müssiggänger und Trunkenbolde seien, dass neun Jahre nacheinander Misswachs geherrscht habe. Zugleich fügt er aber hinzu, dass von allen Ursachen des Elendsdie grosse Anzahl der Juden in diesen Gouvernements die hauptsächlichste ist".Und diese Tendenz", bemerkt hierzu Herr G e s s e n, die Juden für die Ursache aller UnVollkommenheiten im ökonomischen und intellectuell - moralischen Leben des Stammvolkes zu halten, sie zur Erklärung sämmtlicher Missgeschicke heranzuziehen, diese Tendenz wurde sowohl von den Localbehörden als auch in Petersburg beifällig aufgenommen." Jetzt konnte man die Durchführung von radicalen Reformen im Staatswesen wiederum hinaus­schieben und anstatt dessen nur eifrig die Juden aus den Dörfern, aus einigen Städten und Ortschaften vertreiben. Wurde aber einmal als Thatsache angenommen, dass die Juden das Grundübel seien, so musste logischerweise auch nach dem Grund« gefragt werden, warum eigentlich die Juden solche Ausbeuter wären, warum sie immer nur schädliche Beschäftigungen trieben? Hätte man die An­gelegenheit auch weiter logisch verfolgen und die Lebens­bedingungen der Juden gründlich erforschen wollen, so würde man unvermeidlich müssen zum Schlüsse gekommen sein, dass die Juden deshalb bei ihren Beschäftigungen be­harrten, weil man ihnen keine Möglichkeit gab, ihr Leben anders einzurichten. Sie mussten Krämer sein, weil sie keine Ackerbauer sein durften, weil sie in ihren Wohnungs­und sonstigen Rechten beschränkt waren. Man musste mit einem Worte zur Nothwendigkeit einer Reformation der ökonomischen Bedingungen des jüdischen Lebens ge­langen, und dem wichen die damaligen Staatsmänner gleichfalls sorgfältig aus. Man machte sich's also bequem, indem man den moralischen und geistigen Tiefstand der Kehilla-Juden durch ihren Fanatismus, durchdie schäd­lichen Lehren des Talmud" erklärte. Nicht deshalb sind die meisten Juden Krämer, weil sie nichts anderes sein können, sondern weil sie, der Lehre des Talmud folgend,schwerer Arbeit ausweichen und nur leichte Verdienste mittelst Hinterlist und Schwindel suchen müssen". Wodurch ist aber diesesUebel zu bekämpfen ? Nicht durch rationelle ökonomi­sche Massnahmen, sondern durchAufklärung" der Juden mittelst Zwangsmassnahmen und noch grösserer Be­schränkungen der Rechte der Unaufgeklärten. Dieser Um­stand war nach Herrn G e e s e n der Grund, warum die Regierung so gerne und sorglos dieAufklärung" in die jüdischen Massen hineinzutragan geneigt war, während sie

sich den Bauern gegenüber bei weitem nicht so aufklärungs­freundlich verhielt.Die aufgeklärten leibeigenen Bauern" sagt Herr G essenkonnten gegen die Leibeigen­schaft, diesen Eckstein der damaligen Gesellschaftsordnung, protestieren, bei denaufgeklärten" Juden aber existierte diese Gefahr nicht."

Wir sehen also: die eigentlichen Ursachen des so lebhaften Interesses der russischen Regierungen für die Aufklärung der Juden waren nicht aliein nationalistische Strömungen, wie D u b n o w meint, (allerdings waren auch nationale und religiöse Motive massgebend, wie Orschansky nachweist, wir können uns aber hier auf die Erörterung alier dieser nebensächlichen Umstände nicht näher einlassen), sondern die Hauptursachen dieses Interesses waren rein wirtschaffcspolitische. Auch im Memorandum vom Jahre 1840, aus dem Herr Dubnow seine Schlüsse zieht, indem er auf die dort enthaltenen Aeusserungen über die Ab­geschiedenheit der Judenvom allgemeinen bürgerlichen Leben u , von der ganzen übrigen Beölkerung hinweist, auch in diesem Memorandum wird ja, wie wir schon ge­sehen haben, nicht vonrussisch-nationalen" oderjüdisch­nationalen" Juden gesprochen, sondern vonnützlichen und unnützlichen" Juden, von solchen, dieproductive Be­schäftigungen haben, oder aber keine productive Arbeit leisten", diedie Stammbevölkerung ausbeuten oder nicht ausbeuten". Der höhere oder niedrigere culturelle Stand der Juden war dabei nur eine Ausflucht. Die Feststellung dieser Beweggründe der damaligen russischen Regierungn in ihrem Streben, den culturellen Zustand der Juden zu heben, scheint uns deshalb von Wichtigkeit, weil wir auch in den späteren Zeiten in den die Juden betreffenden Regierungs­verordnungen diesen Motiven begegnen.

Auch unter der Regierung Alexanders IL", be­merkt Herrn Margulies in seinem ArtikelUja Grigorowitsch Orschansky", (Monatshefte desWoskhod" Jänner 1901)sind fast alle Gesetze über die Erweiterung der Judenrechte auf demselben Principe des Nutzgenusses vom jüdischen Volke aufgebaut."Fügen wir", bemerkt er weiter,auch das auf den Juden lastende Gesetz vom 3. Mai 1882 hinzu, in dessen gesetzgeberischen Motiven offen auf die Ausbeutung der Stammbevöikerung hingewiesen wird". Wo immer in der Geschichte man die eigentlichen Ursachen eines Uebelstandes verbergen wollte, that man es auf die Weise, dass man die Juden zum Sündenbock machte.

Im nächsten Artikel kommen wir, wie wir schon erwähnt haben, zu einer in der Geschichte der russischen Juden erfreulichen Epoche, die aber nicht lange dauerte. Das war die Zeit der Sechzigerjahre, die uns bald zu der grauen Gegenwart führen wird.

(Fortsetzung folgt.)

EinAugenarzt" in Jerusalem.

Bekanntlich ist die Zahl der Augenkranken in Palä­stina, insbesondere aber in Jerusalem, sehr gross. Die soge­nannteägyptische Augenentzündung", das Trachom, gras­siert da in grauenerregendem Masse. Diese furchtbare Seuche fordert namentlich heuer in Jerusalem viele Opfer, da durch das Ausbleiben des Spätregens allgemeiner Wasser­mangel eingetreten ist und die hiedurch bewirkte Unsauber- keit der Ausbreitung des Krankheitserregers Vorschub lei­stet. Es ist nun für die Zustände in Jerusalem kennzeich­nend, dass die Zahl der Augenärzte im Verhältnis zur Zahl der Kranken geradezu lächerlich gering ist.

Eigentlich gibt es nur zwei Oculisten in Jerusalem: den von der englischen Missionsgesellschaft angestellten Dr. Kent und einen Herrn Dr. L. Rothstein, den sich vor drei Jahren ein jüdischer Verein namens D 1 *11 J? Up IS aus Alexandrien vorschrieb, aber schon nach Verlauf eines