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„Die i** Weltf'
Nr. 39
die Handlungen der Väter mit einer Art von künstlicher Selbstentäusserung nach, mit einer Gleichgiltigkeit, als ob nicht sie die Thüter wären, sondern der Geist der Väter sich ihrer bemächtigt hätte und die Handlungen in derselben Weise übte, wie er es in früherer Zeit gewohnt war.
Geiger spricht irgendwo die Ansicht aus, dass derjenige., der jetzt hebräisch schreibt, in seinem Innern keinen Zusammenhang mehr mit dem Geschriebenen empfindet, sondern unwillkürlich in eine ganz andere Gedankenwelt, in die Welt der Talmud- weisen und Rabbinen versetzt imd in ihren Anschauungskreis hineingezwungen wird. Diese Ansicht hat auch in der That ihre Berechtigung bei den jüdischen Gelehrten Westeuropas, deren hebräischer Stil darauf hinweist, dass die Sprache ihres Volkes kein Theil ihrer Individualität mehr ist. Aber die hebräischen Schriftsteller des Ostens und des Heiligen Landes, die noch jetzt die Sprache ihrer Väter als einen Theil ihres Selbst empfinden, fühlen g e- r a d e, wenn sie hebräisch schreiben, das Bedürfnis, aus dem tiefsten Innern ihrer Eigenart heraus zu schaffen, und sie bemühen sich daher, die Sprache umzugestalten und so zu vervollkommnen, dass sie auch ihnen, wie einst ihren Vätern, zum bequemen Ausdruck der Gedanken werden kann.
Wenn wir nun sehen, wie Geiger und seine Nachfolger ihre Zeit und Kraft der, wie sie glauben, Vervollkommnung des religiösen Beitzthums aus dem „Erbe der Väter" widmen und sich h i e r nicht zufrieden geben mit dem, was sie dort sehr wohl zufriedenstellt, dann ist es uns ein sicherer Beweis, dass hier der Quellpunkt ihrer jüdischen Individualität ist, die zwar z u- s a m m e n g e s c h r u m p f t, aber noch nicht erloschen ist, und dass ihr wahrer und innerer Wunsch (ob sie es sich und den anderen eingestehen oder nicht) darauf gerichtet ist, „ihren eigenen Geist in ebensolchen Thaten auszuprägen, wie sie der Nachgeahmte gemäss seinem Geiste vollbracht hat."
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Vor der Assimilation braucht also unser Volk auch in der Zukunft keine Angst zu haben, wohl aber kann und muss es die Z e r s p 1 i 11 er u n g befürchten. Denn da die Art der Thätigkeit, in welcher unser Volk sein nationales Selbst entwickelt, in jedem Lande von der fremden geistigen Kraft, die dort massgebend ist und sie zur coneurrierenden Nachahmung antreibt, abhängig ist, so steht zu befürchten, dass diese Thätigkeit sich nach verschiedenen Seiten je nach der Verschiedenheit der geistigen Kraft in 'den verschiedenen Ländern zersplittern könnte, so dass im Laufe der Zeit das jüdische Volk nicht mehr ein Volk, sondern. wie in seinem Anfangsstadium, vereinzelte S t ä m m e bilden könnte.
Für diese Befürchtung lassen sich in der That Argumente aus der Erfahrung beibringen. In den Ländern des Ostens zum Beispiel erhielten die Juden ihre Cultur von den Juden Deutschlands. Der Träger der Selbstentäusserung und damit auch das Nachahnuingscentrum war für sie nicht die fremde geistige Macht in ihrem eigenen Lande, sondern ihre Volksgenossen eines andern Landes. Sie ahmten daher diese vollständig nach, ohne an den Unterschied des Landes und der Verhältnisse zu denken, und suchten sieh in allen Einzelheiten als echte Germanen zu geberden. Aber als nach einiger Zeit die Aufklärung in einem bestimmten blasse auch zu den östlichen Juden gedrungen und die neue Kraft ihnen zum Bewusstsein gekommen war, da giengen sie sofort auch in ihrem Verhältnis zu den deutschen Juden von der Selbstentäusserung zur Conenrrenz über und begannen ihr Vorbild zu variieren, entsprechend der Verschiedenheit der geistigen Macht in ihrem eigenen Lande.*) In derselben Weise sind die französischen Juden noch jetzt die Träger der Selbstentäusserung und das Nachahmungs- eentium für die Juden des Orients. Aber auch dort ist dieser Zustand bloss ein vorübergehender und wird nur so lange dauern, bis ihnen die neue Kraft zum Bewusstsein gekommen sein wird. — Und so seilen wir, dass je mehr irgendein Theil unseres Volkes nn geistiger Reife zunimmt, er sieh auch in demselben Masse von der Herrschaft des anderen Thoiles, von seinem ehemaligen Naehahnmngseentrum befreit, und die Gefahr der Zersplitterung rückt immer näher heran.
Aber auch für diese Gefahr gibt es ,eine Rettung und nur eine Bettung. Ebenso wie in der Gesellschaft, im Zustande der Entstehung, der Zusammenschluss der einzelnen 1 ndividuen trotz ihrer persönlichen Eigenthümlichkeiten durch einen centralen M a n n bewirkt wird, so kann auch eine Nation im Zustande der Zersplitterung den Zusammenschluss ihrer Theile trotz der localen Eigenthümlichkeiten durch einen centralen Ort erreichen, der an und für sich und nicht durch irgend einen zufälligen und ephemeren Umstand Anziehungskraft genug besässe, um allen zerstreuten Theilcn der Nation ein gewisses Mass von Selbstentäusserung einzuflössen, so dass die Ergebnisse der coneurrierenden Nachahmung in ihm ein ausgleichendes und richtunggebendes Element fänden.
Wenn nun in den Tagen der ersten Zersplitterung im Kindheitsalter unseres Volkes die Tapferkeit Davids und die Weisheit Salomos ausreichend war, um einen derartigen örtlichen Mittelpunkt, w r ohin nach dem Worte des Psal misten früher „die Stämme Gottes in Stämmen zogen", zu schaffe n, so ist jetzt im Greisenalter des Volkes, weder der Held mit seiner Tapferkeit, noch der Weise mit seiner Weisheit, noch endlich der Millionär mit seinen Millionen imstande, eine derartige Neusehöpfung ins Leben zu rufen. Und so werden diejenigen, die die Einheit des Volkes erhalten wollen, ob sie wollen oder nicht, sich in die geschichtliche I^otTiwcndigkeit ergeben müssen und ihre Blicke nachdem Osten richten, dem Nachahmungscentrum von ehedem.
Smolensky**) und Achad Haam.
Von Salomon Schiller.
Der Schnftstellername Achad-Haam, „Einer aus dein Volke" — vom jüdischen Lesepublicum in „den Einen des Volkes" umgedeutet — verbindet sich in meinem Bewusstsein mit dem Bilde eines anderen congenialen hebräischen Schriftstellers: mit dem Bilde Perez Smolenskys. Diese beiden hervorragendsten hebräischen Sehrfftsteller der letzten dreissig Jahre (Smolensky wirkte 1869—188o, Achad-Haam seit 1889) haben sowohl ihrer subjectiven Beschaffenheit nach, als auch mit Rücksicht auf ihre Wirksamkeit vieles miteinander gemein.
Beide markante Persönlichkeiten, ganze Charaktere (Smolensky temperamentvoll, pathetisch bis zum Fanatismus, Achad- Haam kühl gelassen, aber nicht minder unbeugsam und eigensinnig) ; Schöpfer von Programmen, Ideen, Richtungen, denen sie ihre grosse sittliche Kraft und ihr universelles Wissen (Smo- lenski ein phantasiereicher, schöpferischer Dilettant, Achad-Haam ein philosophisch geschulter, überaus gründlicher und subtiler Kopf) gewidmet haben. Beide sind sie vornehme Naturen — insbesondere ist Achad-Haam ein Hasser alles Pöbelhaften, Gemaeh-
*) Der Antrieb zum Anschluss an die europäische Cultur, der bei den russischen Juden zum grossen Theile schon vollzogen ist und sich trotz aller inneren und vor allem äusseren Hindernisse in grossartigem Verlaufe immer weiter vollzieht, gieng ursprünglich von der MencTelssohn'schen Schule aus, deren Wirkungen sich seit den Dreissigerjahren des verflossenen Jahrhunderts verfolgen lassen. Es ist noch nicht allzu lange her, dass man jeden, der europäisches Wissen besass, als „Berliner" bezeichnete, und noch jetzt wird in Polen derjenige, der europäische Kleidung trägt, ein „Deutscher" genannt. Die hebräischen Schriftsteller der ersten und zum Theile noch der zweiten Generation sahen in den deutschen Juden, die sie allerdings nur aus der Literatur über die Wissenschaft des Judenthums kannten, die Verkörperung ihres Ideals, „in seinem Hause Jude und draussen Mensch zu sein" (nach dem Ausdrucke des grossen Dichters Jehuda Leib Gordon), und fühlten sich ihnen gegenüber zur „Selbstentäusserung" verpflichtet. Dieser, höflich gesagt, Nachahmung, verdanken beispielsweise die wenigen russischen Orgelsynagogen, in denen früher sogar deutsch gepredigt wurde, ihre Entstehung. Doch bereits Perez Smolensky sah, dass die deutschen, wie überhaupt die westeuropäischen Juden die europäische Cultur um den Preis ihres Judenthums erkauft hatten. Seitdem hat sich der von ihnen ausgehende Ein flu ss immer mehr verringert und vollzieht sich jetzt, natürlich nur da, wo er es verdient, in der Form einer durchaus zielbewussten Nachahmung.
' Anm. d. Uebers.
**) Uns beschäftigt hier lediglich Smolensky, der Publicist und Ideenverkünder; Smolensky, dem Roman- und Novellen schriftsteiler soll eine besondere Besprechung gewidmet werden.