Familienchronik und Familienarchin.
Zur Methodik der Famittenforschung.
Bon Ernst Wolff, Berlin.
Die Weltgeschichte ist das Weltgericht; das will besagen, daß es letzten Endes nur ein' Urteil gibt: das der Tatsachen.
Aber was ist'Geschichte? Geschichte ist die Summe des Geschehens, Geschichte ist all das, was das Leben (auf- und nebeneinander) schichtet; Geschichte ist die organische Einheit von Ursache und Wirkung. Jedoch: Geschichte ist nicht Chronik. Eine Chronik ist etwas grundsätzlich anderes. Eine Chronik ist nur das Spiegelbild der Geschichte, ist ein Versuch, Ursachen und Wirkungen nachzuspüren und sie aufzuzeigen. Geschichte schreiben, d. i. Chronik schreiben, heißt ein Werturteil fällen, ein Werturteil, das gebunden ist an die Weltanschauung des Chronisten, an die Art und die Stärke seines Mitempfindens und Nacherlebens, sie ist ein Werturteil, das nicht zuletzt beeinflußt ist von den Anschauungen des jeweiligen Zeitalters. Jede Geschichtsschreibung, jede Chronik ist naturnotwendigerweise subjektiv, nie objektiv.
Das, was für die Geschichte schlechthin gilt, gilt in gleichem Maße für den besonderen Zweig der Familiengeschichte.
Wenn aber die Chronik nicht objektiv sein kann, dann ist weder der Zeitgenosse noch ein späterer an das Urteil des Chronisten gebunden. Das Urteil ist variabel. Bei der heutigen Strömung muß man ja beinahe um Entschuldigung bitten, wenn man Schiller zitiert; er gibt dieser Auffassung aber schon im „Wallenstein" Ausdruck: „Durch der Parteien Haß und Gunst verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte".
So selbstverständlich es ist, daß der Chronist die Beweismittel sammelt, bzw. auf bestehende Sammlungen zurückgreift, genau so selbstverständlich steht jedem späteren Chronisten das Recht zu, diese Beweismittel zu prüfen, weitere hinzuzufügen und ein völlig unabhängiges, ein neues, sein Urteil zu fällen. Ein zeitlicher Abstand läßt häufig Ursache und Wirkung treffender und sicherer beurteilen, als dies dem Zeitgenossen möglich ist, aber, und das ist das wesentliche, die Chronik ist und bleibt immer nur ein rein persönliches Urteil.
Der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht ist, wenn man so sagen darf, nicht.das veränderliche Urteil des Geschichtsschreibers, sondern das, was das Leben zu organischer Einheit auf- und nebeneinanderschichtet: die Tatsache. Was Tatsache ist, kann möglicherweise auch noch „Meinung" sein; unveränderlich aber — cum grano salis — ist die materielle Erscheinungsform der Tatsache, das Beweismittel selbst, die Sammlung dieser Beweismittel: das Archiv.
Somit wird das Archiv zum eigentlichen Kern jeder Geschichts-, jeder Familiengeschichtsforschung. Die Auffüllung des Archives ist die Forschungsarbeit. Solange das Lehen lebt, wirkt es fort und häuft Tatsache auf Tatsache, die im Archiv in irgendeiner Form ihre Aufbewahrungsftätte findet. Das Archiv veraltet nie; es wandert mit den Menschen durch die Jahrhunderte. Der Begriff der Dauerhaftigkeit gehört zum Wesen des Archives.
Anders dagegen die Chronik. Sie reicht stets nur bis zum „Gestern", erreicht nie das „Heut". Ist der letzte Federstrich getan, beginnt sie zu veralten. Ebenso geht es der graphischen Darstellungsform von Berwandtschaftsverhältnissen, z. B. der Ahnen- oder der Stammtafel oder irgendeiner Variation oder Kombination dieser. Jede Tafel gibt nur einen Zustand, ein Augenblicksbild. Die Chronik gibt schon etwas mehr: eine Entwicklung. Beide, Chronik und Tafel, ergänzen sich wechselseitig,
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