Privatbriefe
als Quellen der jüdischen Familienforschung
Von Guido Kisch.
Briefe und Briefsammlungen bilden einen ansehnlichen Teil der Literatur der Juden. 1 ) Die Mehrzahl der gedruckten und'handschriftlichen Brief- Sammlungen aus alter Zeit besteht jedoch aus literarischen Werken, die nur der Form nach zu den Briefen gehören. Dies gilt nicht nur von den ausgedehnten Rechtsgutachtenliteratur, die in solche Form gekleidete Entscheidungen über Fragen der religiösen Praxis enthält, sondern selbst von den mit „Iggeret“ oder „Michtab“ betitelten Schriften, die religionsgesetzliche, ethische, exegetische und sonstige literarische Gegenstände behandeln. Vielfach sind diesen Schriften die bekannten Musterbriefsammlungen entnommen. 1 ) Obwohl bisweilen wirklich geschriebene Briefe in ihnen Vorkommen oder ihren 'Ausführungen zu Grunde liegen, so dürfen sie doch auch in förmlicher Beziehung nicht als Beispiele von Briefen im eigentlichen Sinne, von Privatbriefen, angesprochen werden, hauptsächlich deshalb, weil sie bald mehr bald weniger bewußt für die öffent- lichkeit geschrieben sind und daher als literarische und 'wissenschaftliche Produkte beurteilt werden wollen. 3 )
Wenn nun auch in diesen Werken der zeit- und sittengeschichtliche Jiinter- grund durchschimmert, so gewähren sie doch keinen solchen Einblick in die Zeitverhältnisse, in die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge, in persönliche und Familienbeziehungen wie Privatbriefe, die teils zu persönlichpraktischen Zwecken, teils aus bloßem Mitteilungsbedürfnis! geschrieben, nur für den Empfänger nls Privatmann bestimmt sind. Mit gutem Grund hat sich daher das Interesse der Gegenwart und der modernen Geschichtsforschung diesen menschlichen Dokumenten zugewendet, deren Wert und Bedeutung lange von der Wissenschaft unterschätzt und vernachlässigt worden waren. Denn aus ihnen tritt nicht bloß das äußere Bild und Schicksal der Menschen vergangener Zeiten besonders deutlich entgegen, sondern selbst ihr Fühlen und ^Empfinden kann aus jenen vergilbten Blättern oft unmittelbar herausgelesen werden. Die neuere allgemeine briefgeschichtliche Forschung ist von dem deutschen Kulturfaistoriker Georg Steinhausen angebahnt und in mehreren grundlegenden Werken ausgebaut worden. 4 )
Das Verdienst, in neuerer Zeit alte jüdische Privatbriefe als wichtige jüdische Geschichtsquelle erstmals erkannt und verwertet zu haben, gebührt LudwigBlau, dem Herausgeber und Bearbeiter der reichhaltigen Korrespondenz von Leon da Modena (1571—1648), welche eine große Ausbeute für die Kenntnis des jüdischen Privatlebens und damit der Kultur- und Sittengeschichte der Juden in Italien von der Wende des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts liefert. 3 ) Unter den „Briefen und Schriftstücken“ Modenas befinden sich solche an Verwandte, an verschiedene mehr oder minder bekannte Persönlichkeiten, an Körperschaften, innerhalb und außerhalb 1 Italiens. Darunter folgende: eine Einladung zu einer Doppelhochzeit, eine Aufforderungzur Schlichtung eines Streites, mehrere Familienbriefe und Briefe in Familienangelegenheiten, Freundschaftsbriefe, verschiedene Empfehlungs-
702