Gedeih und Verderb, auf Leben und Tod, daß sie die Glieder eines einzigen Körpers sind, <ler nur dann gesund ist, wenn keines von ihnen an einer Krankheit leidet. Wie auch der einzelne zu den Fragen des Lebens steht, welchen Platz er im Leben gefunden hat, welche Vorgänge es waren, die ihn auf seinen Platz verwiesen, wir sind miteinander verbunden, und wichtiger als das Einzelschicksal ist für jeden von uns das Schicksal der Gemeinschaft.
Was ist unter diesen Umständen natürlicher, was ist aber auch notwendiger und unverzichtbarer als die möglichste Stärkung dieser Verbundenheit und des Strebens zu ihr? Nur gemeinsam sind wir stark, der einzelne wird von der Wucht des wie auf alle andern so in gleicher Weise auf ihn niedersSusenden Schicksalshammers mitleidslos zertrümmert. Und da heißt es denn, daß jeder an seinem Platze für die immer engere Verknüpfung aller deutschen Juden sein letztes herzugeben, daß jeder für sie mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu kämpfen habe.
Auch der Landesverband, dem ein so wichtiger Platz im Leben der preußischen Judenheit eingeräumt ist, hat von diesem aus dafür zu sorgen, daß jene ein geschlossenes Ganzes bleibe, daß sie in Sturm und Braus gerüstet und sicher dastehe und wie ein auf heimatlicher Erde gewachsener Baum weder erschüttert noch gar entwurzelt werde. Wer mit offenen Augen die Haltung der deutschen Juden im vergangenen Jahre verfolgt hat, der wird ihnen nicht vorwerfen können,-daß sie es an Würde hätten fehlen lassen. Er wird auch bemerkt haben, daß der Drang zur Verbundenheit untereinander mit geradezu elementarer Gewalt zum Durchbruch gekommen ist. Die Aufgabe, die den . großen Organisationen zugefallen ist, diesen Drang anzuspomen, zu steigern und zu einem unwiderstehlichen zu machen, ist dadurch zwar sehr erleichtert worden, sie erfordert aber stets aufs neue die Anspannung aller ihrer Kräfte.
Und so will auch der Preußische Landesverband dieser Aufgabe in immer höherem Maße gerecht werden. Er will zu seinem Teile helfen, nicht nur seine Mitgliedsgemeinden enger zusammenzuschließen, sondern auch die zu ihnen gehörenden Menschen einander nahezubringen. Als ein geeignetes Mittel dazu sieht er den Ausbau seines Verbandsblatts an, das ein reines Amtsorgan, ein „Regierungsblatt“ gewesen ist, dessen Inhalt aber von jetzt an nicht allein den Verwaltungsorganen der Mitgliedsgemeinden zur Kenntnis
gebracht werden, vielmehr über diesen Zweck hinaus jedem einzelnen Leser seelisch nahetreten und ihn mit «dem Gefühl engster Verbundenheit erfüllen soll. Das Blatt soll deshalb künftig als eine Art Gemeindezeitung in die Hände möglichst vieler Menschen kommen, insbesondere auch derjenigen, die mit den Angelegenheiten ihrer eigenen Gemeinde nicht befaßt sind und deren Besorgung anderen überlassen. Zu ihnen allen will das Blatt sprechen. Sie alle sollen aus seinen Spalten, aus dem mannigfachen Inhalt seiner ‘Aufsätze und Beiträge die Sicherheit und Ueberzeugung schöpfen, daß sie nicht allein stehen, sondern daß jeder von ihnen gleich allen anderen aus der großen jüdischen Gemeinde von der dazu berufenen Stelle in seinen Interessen vertreten, gestützt und aufrechterhalten wird.
Um diesen Zweck zu erreichen, soll das Blatt von jetzt ab regelmäßig, und zwar jedesmal zu Beginn eines Monats, erscheinen. Wenn, der einzelne Leser sieht, daß die Leiter und Führer der jüdischen Sache sich so oft w'ie möglich an alle Juden gemeinsam wenden, so wird er — das hoffen wir bestimmt — schon dadurch allein das etwaige Gefühl der Verlassenheit verlieren und sich mit den Brüdern und Schwestern zu Schutz und Trutz verbunden wissen.
Was wir bringen, wird nicht jeden in der gleichen Weise interessieren, aber es wird zeigen, daß es der ganze große Kreis der deutschen Juden ist, an den wir herantreten, und daß dieser Kreis, je geschlossener er ist, je fester er zusammenhält, desto besser gewappnet ist gegen die Kräfte, die sich ihm entgegenstellen. Deshalb geben wir dem Blatt als Losung und Mahnwort mit auf den Weg, was jeder Jude in der jetzigen Zeit beherzigen sollte: Enge Verbundenheit und gemeinsames Fühlen in gemeinsamem Leid und, wie wir zuversichtlich - hoffen,auch wieder einmal in gemeinsamer Freude.
Mögen dem Blatt auch nach der Veränderung seiner Erscheinungsform und der Umgestaltung des Inhalts die Gemeinden, ihre Leiter und alle ihre Mitglieder das Interesse und die Treue bewahren. Wir unsererseits werden die Treue vergelten und unsere • Aufgabe darin erblicken, von der Warte, die uns das Leben in allen jüdischen Gemeinden Preußens überblicken läßt, nicht von der Zinne der Partei jedem Leser das zu vermitteln und zur Kenntnis zu bringen, was für ihn und damit auch für alle anderen nützlich und wertvoll ist.
Leo W o 1 f f.
Was wir sind, was wir haben.
Betrachtungen zum Schowuaus-Feste
von Rabbiner Dr. Emil Bernhard Cohn, Berlin.
Ein Gesetz der Natur lehrt uns, daß jeder organische Körper seine stärksten Kräfte dort entfaltet, wo er angegriffen ist. Nach diesem Gesetz müßte das deutsche Judentum heutzutage eine große religiöse und moralische Erneuerung erleben, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß das gewaltige Geschehen unserer Tage nicht nur unsere äußere Existenz bedroht, sondern auch an den innersten Lebensnerv unseres Judentums rührt. Und doch ist es anders. Während die Kirche eine gewaltige religiöse
Erschütterung durchmacht, reagiert das deutsche Judentum auf das Geschehen dieser Tage nicht religiös, sondern auf eine andere Weise. Es ist zwar aufgewacht, zwar jüdischer geworden, ja selbst die Synagogen zeigen sich heute voller als je. Und doch geht alles mehr auf ein vages Gefühl des wiedererweckten Selbstbewußtseins als auf einen religiösen Wandel der Gesinnung. Man wird mir einwenden, daß dem deutschen Judentum ja bisher nichts widerfahren sei, daß wir in unseren religiösen Belangen, in Gottesdienst und Unterweisung unangefochten
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