GEMEINDEB1ATT
FÜR NE JÜDISCHEN GEMEINDEN PREUSSENS
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DES PREUSSISCHEN LANDESVERBANDES JÜDISCHER GEMEINDEN
AU« Zmdvtftea itad na rtdkfcn mn da« Verwaltung»- und GenelndebUtt des Prrnfl todxn Landeerrrbnndes fOdtecfaer Gendndcu, Bfo.'ChartotteiÜKirf 2, Kantstr.158,11.Stock Der B »— g Bp c et» Är to Etaachnner betrift lt Pfennig. Verantwortlicher Letter de» Innerstentdls: Joeegh J«trov, Berlin S 43, RttterstraBe 36
13. Jahrgang Berlin, den 1. Februar 1935 Nr. 2
Die andere Hälfte
„Im en kemach, en thora; wo kein Brot ist, da ist keine Lehre“ — die Wahrheit dieses Wortes (oder vielmehr dieser ersten Hälfte eines Wortes) aus den Sprüchen der Väter wird heute allgemein erkannt. Wenn es keine Juden gäbe, wenn der Juden- heit die wirtschaftliche Möglichkeit des Existierens fehlte, so gäbe es auch kein Judentum. Aus ähnlicher Erwägung, wenn auch nicht entfernt in dem hohen Sinne des jüdischen Wortes, mögen die alten Lateiner vom „primum vivere“ gesprochen haben: daß zuerst die nackte Existenz gesichert sein muß, ehe man eine Kultur darüber aufbauen kann. Was uns Juden betrifft, so lebt auch in uns, wie in jedem Wesen, der Urtrieb der Selbsterhaltung, und so ist es nur natürlich, daß mit der hereinbrechenden Not f der letzten Jahre uns die Kräfte wuchsen und — sich vereinigten. Fragt man, welches der vielen Gebiete jüdischen Lebens heute, und schon seit langem, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses steht, so wird man antworten müssen: das der Wirtschäfts hilfe. Sicherung oder Umpflanzung jüdischer Existenzen ist die Aufgabe des Tages, und allen Stellen, die auf diesem weitverzweigten Gebiete arbeiten, wendet sich allerorten die Anteilnahme zu; sie sind im jüdischen Leben populär geworden und mit ihnen auch diejenige Instanz, die es sich erfolgreich zur Aufgabe gemacht hat, die vielen jüdischen Einzelorganisationen wie unter einem Dache einheitlich zusammenzufassen. „Hilfe“ und „Aufbau“ sind populär auch deshalb, weil ihre Arbeit gewissermaßen den einzelnen Glaubensgenossen direkt und unmittelbar angeht. Der Leser einer Werbeschrift, der Hörer einer Propagandarede sagt sich etwa so: Ich selber brauche einen Kredit für meinen Betrieb; ich selber muß in einen andern Beruf; ich selber habe einen schulentlassenen Sohn, der eine Lehrstelle sucht; ich selber habe eine Tochter, die mit ihrem Mann aus- wandem möchte; ich selber erlebe gerade jetzt einen Fall, in dem ich Rechtsberatung und Rechtsschutz nötig habe. — Allo Wirtschaftshilfe dient dem Einzelnen unmittelbar. Dies — neben der Selbstverständlichkeit des „primum vivere“ — der Grund für
ihre Popularität, der Grund dafür, daß Kredithüfe und Arbeitsvermittlung, Berufsumschichtung und Rechtsschutz, Auswandererhilfe und Berufsausbildung der Jugend fast schon zum Zentrum alles jüdi- sehen Denkens geworden ist.
Der Preußische Landesverband jüdischer Gemeinden hat die Bedeutung und Unentbehrlichkeit aller dieser Arbeiten'nicht nur niemals verkannt, sondern er darf für sich in Anspruch nehmen, manche der auf dem Gebiete der jüdischen Existenzsicherung liegenden Aufgaben zu einem Zeitpunkt in Angriff genommen zu haben, als die jetzige Entwicklung noch von niemandem vorausgesehen wurde. Als zwei Beispiele — unter vielen — mag hier die Tätigkeit des dem Landesverband ungegliederten „Wirtschaftsausschusses“ genannt werden, der bereits 1931 eingehende Untersuchungen über die Wirtschaftsund Berufsgliederung der deutschen Juden anstelltc und sich in den schicksalsschweren Tagen des Jahres 1933 zur „Zentralstelle für jüdische Wirtschaftshilfe“ umbildete, die ihrerseits die Gründung der Wirtschaftshilfsstellen bei zahlreichen jüdischen Gemeinden veranlaßte; und es mag ferner, als zweites Beispiel, die Schaffung der Zentralstelle für jüdische Darlehnskassen hier Erwähnung finden. Es gibt kein' Gebiet jüdischer Wirtschaftshilfe, auf dem der Landesverband nicht durch Rat und Tat, durch Einfluß und Mitverantwortung führend mitarbeitet.
Aber eben deshalb kommt es vielleicht auch gerade dem Landesverband zu, einmal öffentlich auszusprechen, daß mit allen diesen Arbeiten, so wichtig und unentbehrlich sie sind, genau nur die Hälfte der zu vollbringenden Aufgabe geleistet wird. Denn die Wirtschaftshilfe dient, so wurde oben gezeigt, den jüdischen Einzel- existenzen und, bestenfalls, der Judenheit; jüdische Einzelexistenzen aber, selbst in gesicherten Verhältnissen und in größerer Zahl, bilden noch kein Judentum. Das, was wir, und alle Geschlechter vor uns, unter Judentum verstanden haben, die jüdische Religion mit ihrem hohen Gedankengut, ihrer Ethik, Menschenliebe, Gottesfurcht und beseelten