GEMEINDEBIATT
FÜR DIE JÜDISCHEN GEMEINDEN PREUSSENS
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DES PREUSSISCHEN LANDESVERBANDES JÜDISCHER GEMEINDEN
Alle Zusdirlften alnd iu rldilea an da« Verwaltung«-und Gemeindeblatt de« PreufiUdien Landesverbandes lodltdier Gemeinden, Bln.-Charlottenburg2, Ksntslr. I5S, U.Stock Der Bezugspreis für die Elnselnusuaer betrlgt 1» Pfennig. Verantwort 11 (her Letter des Inseratenteils: Joseph Jastrow, Berlin S 42, RittentraSe 36
13. Jahrgang Berlin, den 1. April 1935 Nr. 4
Jeder der hungrig ist, komme und esse!
Von Rabbiner Dr. Lothar R o t h s c h i I tl, Saarbrücken.
Wenn wir Peßach feiern, ist nicht nur Frühling in der Welt, sondern auch in unserer Erinnerung, in dein Andenken an die Zeit der Befreiung aus Aegypten, die ihre eigentliche Bedeutung ja erst dadurch erhält, daß sie verbunden ist mit der Geburt des Volkes Israel, also mit dem Frühling unserer Geschichte. Denn nicht das ist das Wesentliche, daß wieder einige Noiuadenstäinine aus Aegypten wegzogen; d i e hätten sich gleichfalls mehr oder weniger lange in der Wüste aufgehalten, hätten gleichfalls getrennt oder noch vereinigt irgend ein anderes Land erreicht, doch wäre dies wohl nie ein „heiliges Land“ geworden, hätte es nicht vorher das Gauj Kodausch, das „heilige Volk“ gegeben. Vorbedingung für alle spätere Geschichte war die Erkenntnis Gottes durch ein heilig gewordenes Israel; dieses Werden Israels war der Vorfrühling, und nun kam der Frühling in der Geschichte unseres Volkes. „Vom Eise befreit sind Ströme und Bäche...“ heißt es in Goethes Frühlingsgedicht und auch in unserer, Israels Geschichte haben wir alljährlich zu Peßach das Gefühl, als ob von neuem der Strom unseres jüdischen Daseins wieder vom Eise befreit werde in der Erinnerung an das Geschehen jener Tage.
Und dieses Geschehen ist verbindlich für uns alle. Alle sollen davon hören und an den Erinnerungssymbolen teilnehmen. Wenn wir am Vorabend die Synagoge besuchen, fällt uns auf, daß im Gemcindegottesdienst kein Kiddusch gesprochen wird. Denn der Kiddusch soll ja von den Hausvätern gesprochen werden und wird in der Synagoge nur für diejenigen gesagt, die selbst keine Gelegenheit haben, weil sie kein Zuhause haben. Aber am heutigen Abend, dem Sederabend, darf kein Jude ohne Zuhause sein, sondern für alle gilt die Verpflichtung, teilzunehmen an der Erinnerüngsfeier für den ersten Frühling in der Geschichte Israels. Wir begehen dieses Erinnerungsfest nicht in einer historischen Gedenkstunde, sondern in einem schlichten Festmahl. Das geschieht, um die Gemeinschaft noch fester zusammenzuschließen, denn von allen Formen der Gemeinsamkeit verbindet am besten die des Mahles, und am vertrautesten ist man mit jenem, mit dem gemeinsam man einen Scheffel Salz gegessen hat. Aber wir feiern nicht mit einem beliebigen, sondern mit
einem schlichten Festmahl, und es ist trotzdem eine freudvolle Feier, denn bei uns Juden besteht ja Freude nie in toller Ausgelassenheit, sondern in ernstem Besinnen und in der dauernden Fähigkeit, zurückzugehen in die Situationen, deren wir gedenken, um, durch solche Erinnerung gestärkt, unsere eigene Situation zu betrachten.
Dieser Abend ist der Erzählung gewidmet, damit die Erinnerung nicht ausstirbt in Israel von den Wundertaten, die Gott an Israel tat und deren Wunderbarstes darin he- ' steht, daß sie nachwirken in unserer wunderreichen Geschichte bis auf diesen Tag, und daß wir in derselben Situation, aber an anderem Ort und in anderem Gewand, wieder zu uns selbst zurückkehren wollen — ganz wie in jenem geschichtlichen Augenblick, dem unsere Erinnerung gilt. Wir zeigen auf das Brot der Armut; das unsere Väter in Mizrajiin gegessen haben, um uns selbst vor Ueberhebung zu schützen. Dann laden wir jeden Hungrigen ein, mit uns zu essen von diesem Mahl des Seders, diesem Erinnerungsmahl. Seder heißt „Ordnung“; der Abend und seine Anordnung richten sich nach einer bestimmten Reihenfolge. Doch könnte man es auch so auffassen, daß uns dieses Mahl, das die Verbindung schafft zwischen uns und Generationen gleicher Blickrichtung vor uns erinnern soll an die Ordnung unserer Geschichte, an die Anordnung und Gesetzmäßigkeit unseres Gemeinschaftserlebnisses, das uns in anderen Formen und anderen Ländern immer wieder als gesetzmäßiges und geschichtstypisches Geschehen erreicht.
„Jeder der hungrig ist, komme i\nd esse!“ Wer ist wohl hungrig und wonach sind wir hungrig? Nach Erkenntnis. Mancher verspürt den Hunger allerdings erst, wenn er an der gedeckten Tafel sitzt. Diesen Ruf, daß der Hungrige komme und esse, hat das Judentum immer seinen Bekennern verkündet, nur wähnten manche, satt zu sein und ernannten nicht, daß sie an einem anderen Tisch gegessen hatten. Die Geschlechter, mit denen uns die Erzählung des Peßachabends verbindet, waren_hung- rige Brüder unserer Gemeinde. Sie hungerten nach freiem Bekenntnis, nach gesetzmäßiger Regelung ihres eigenen Lebens. Denn Freiheit besteht für den Juden in der Ge-