GEHEINDEBLATT
FÜR DIE JÜDISCHEN GEMEINISN PREUSSENS
VE RWA LTUNGSBIATT
DES PREUSSISCHEN LANDESVERBANDES JÜDISCHER GEMEINDEN
Alle Zasdirtften find su rtduen an das Verwaltung»- and GemelndebUtt des Preafttedien Landesverbandes )Odls<ber Gemeinden, Bln.-Charlottenburg2» Kantsfr.158, ILStod Der Bezugspreis für die Einzelnummer betragt II Pfennig. Verantwortlicher Leiter des Inseratenteils: Joseph Jastrow, Berlin S 42 , Ritterstrafte 36
13. Jahrgang
Berlin, den 1. Juni 1935
Nr. 6
Das göttliche Gesetz
Es ist eine oft — aber doch nicht oft genug — ausgesprochene Tatsache, daB das einzige Literaturdokument, das schlechthin allen Menschen dieser Erde bekannt ist, auch den unbelesensten und den des Lesens unkundigen noch, jenes Zehnwort ist, das in unseren jüdischen Synagogen über der Heiligen Lade, sichtbar für alle, angebracht ist. Durch dieses Zehnwort sind wir Juden das geworden, was wir sind: nicht „das Volk des Buches“ nur, wie schon eine alte Tradition uns nennt, sondern nach dem Worte eines neuzeitlichen Denkers „das Volk des Buches, welches das Buch der Völker geworden ist“. Denn alle Schönheit, alle hohe und oft auch holde Menschlichkeit der Patriarchen-Erzählungen würde nicht ausgereicht haben, die jüdische Bibel zur Heiligen Schrift aller Völker zu erheben, wäre nicht, zum Menschlichen hinzu, das Göttliche gekommen, das Sittengesetz mit seiner räumlichen (weil für Alle gültigen) und zeitlichen (weil für ewig gültigen) Allgemeingültigkeit. Es ist billig, einer modernen philosophischen Richtung folgend, zu sagen, das „Töte nicht, stiehl nicht“ usw. ginge ja lediglich auf den gemeinen, das heiBt praktischen, materiellen Nutzen der Menschen und habe mit höheren, geistigen Idealen nichts zu schaffen. Wäre dem so, so bliebe erstaunlich, daB solch ein Gesetz überhaupt erst erlassen werden muBte und daB es, trotz Erlaß, gar so wenig befolgt wird. Denn Nutzen erstrebt jedermann. Aber gerade darin liegt der Unterschied zwischen materiellem Streben und idealer Forderung: jedermann hat das Recht und daher das Streben, glücklich zu sein; jedoch findet das Recht des Emen seine Grenze an dem Recht des Andern, und, um diese Grenze zu respektieren, muß der Mensch sich selber überwinden können, muß mehr
werden, als er von Natur aus ist. So, wie das Zehnwort vom Sinai den Menschen will, so i s t er nicht, so soll er sein, ja: insgeheim trägt er in sich den Wunsch, wirklich zu sein, wie dies Gesetz vorschreibt. Und schon deshalb empfinden wir dieses Gesetz als göttlich, weil es eben mehr ist als nur menschlich. Darum bleibt es ein ganz tiefes Gleichnis — das sich an Tiefe wahrlich mit den Gleichnissen der Evangelien messen kann — daß selbst das Volk, das als erstes dieses Gesetz empfangen durfte, gleich allen andern Menschenvölkern den Anforderungen dieses Gottesgesetzes nicht gewachsen war; es fiel ab vom Gesetz, sodaB Mose im Zorn die göttlichen Tafeln zerbrach; Gott aber befahl dem Mose, ihm zwei neue Tafeln heraufzubringen, „und Ich werde auf die Tafeln die Worte schreiben, die auf den ersten Tafeln standen, welche d u zerbrochen hast“. Immer wieder zerbricht der Mensch diese Tafeln, selbst Mose in seinem Zorn, und immer wieder schreibt Gott die ewigen Worte neu; zu jeder Zeit und in jedem Volke. In dieser Auffassung des Sinai-Gesetzes stimmen alle Religionen überein. Auch der oft genannte Kardinal Faulhaber schreibt in seinem Buche „Zeitrufe — Gottesrufe“ (Freiburg i. Br. 1931): „Vox temporis vox dei soll nicht bedeuten, jede Zeit könne sich nach ihrem Zeitgeschmack und Sittengesetz neue Sinaitafeln zurechtlegen. Im Staatsleben der Völker wechseln die Verfassungen und Verordnungen einander ab. Das gött- f liehe Sittengesetz aber ist über den Wechsel der Zeiten erhaben, überzeitlich, den Sternen gleich, die dem Zugriff der Menschen entzogen sind.“ Und wenn der gleiche katholische Kirchenfürst in einer seiner späteren, so viel beachteten Reden ausrief: „Volk Israel,