Die Thora als Seele und Schicksal des jüdischen Volkes
Zum diesjährigen Offenbarungsfest
Von Oberrabbiner Dr. Adolf Altmann, Trier.
Als Israel am Sinai stand und der überwältigende Akt der Offenbarung geschehen sollte, entschwand, so erzählt ein Midraschwort, den in Ergriffenheit Staunenden die Seele. Sie wurden plötzlich wie leblose Körper. Sowie aber Gott anbub, sein „Ich bin“ zu sprechen, ihnen die Tora zu geben, kam wieder Leben in sie, und zwar ein anderes, neues Leben. Oie alte Seele war ihnen entflogen, aber eine andere, neue senkte sich in sie. Gott hatte sie ihnen mit dem Odem des biblischen Geistes eingehaiicht. Das ist es, was das Psalmwort meint, wenn es sagt: '„Die Gotteslehre vervollkommnet, sie gibt Seele wieder“
Italienische Omeruhr aus dem 18. Jahrhundert
Foh Abraham
(Psalm 19s, Bamidb. rabba 11). Auch Jirmijahu läßt Gott sagen: „Meine Lehre habe ich in ihr Inneres gelegt, und auf ihr Herz werde ich sie schreiben“ (Jer. 31ss). Jehuda Halevi spricht in seinem Kusari davon, daß Gott schon in die Seele Adams die Anlage für die Empfangnahme der Tora eingöpflanzt und mittels einer mystischen Traduktion auf Israel bei der Offenbarung übertragen habe, so daß die ganze Bibel, Wurzel, Stamm und Krone der Tora, als die Seele angesehen werden kann, die im Volkskörper des Judentums atmet.
Man kann das Faktum, daß die Bibel mit dem Wesen der jüdischen Volksseele identisch ist, an einem anschaulichen Umstand ermessen, an der Eigenart unseres Schicksals. Seele bedeutet ja auch Schicksal, ja, vielleicht drückt sich im Schicksal am tiefsten das Wesen, der Seele aus. Denn die Schicksale der Menschen knoten sich in ihren Seelen. Nicht, was jemand erlebt, macht sein Schicksal aus, sondern wie er es erlebt, wie seine Seele es auf- nhnmt und widerstrahlt. „In deiner Seele ruht dein Glück und dein Unglück“ (Demokrit). Unser jüdisches Schicksal entschied sich stets an unserem Verhältnis zu unserer Seele, zur Bibel. Wie wir zu ihr standen und von ihr aus die Dinge, die an uns heran kamen, in uns aufnahmen und entwickelten, so war stets unser Schicksal, und so wird es auch stets für uns bleiben. Das hat schon Mosche ausgesprochen: „Sie ist euer Leben, und durch sie werdet ihr aaf die Dauer bestehen“ (Deuter. 32«). Wir Juden bestehen durch die Bibel, wie die Bibel durch uns besteht. Wir und die Bibel sind wie Körper und Seele, die einander bedingen und ergänzen. Nur mit der Bibel und durch sie
hat das jüdische Volk Halt und Boden und wahre Originalität auf der Welt. Sie ist ihm mehr noch als das „geistige Vaterland“ — wie Heine das Verhältnis der Juden zur Bibel bezeichnet, — sie ist ihm die Welt überhaupt. Durch die Bibel hat das jüdische Volk seine ewige, unsterbliche und originelle Prägung erfahren. Der biblische Geist war es, der unsere schöpferischen Energien entwickelt hat. Und auch in der Zukunft — wenn dem Judentume noch eine Epoche schöpferischer Kraft beschie- den sein soll — wird es nicht anders sein. Die Stunde der Wiedergeburt des jüdischen Volkstums wird nur schlagen, und eine wirkliche jüdische Renaissance wird nur eintre- ten, wenn die Macht der Bibel wiederum über uns gekommen sein wird, so daß die - Welt uns nicht aus übernommenen, uns schlecht anstehenden Fremdartigkeiten,. mimikryseben Allüren, sondern wiederum aus den Wirkungen heraus erkennen wird, die unserer echten Seele entspringen. „Denn sie (die Tora) ist eure Weisheit und Einsicht vor den Augen der Völker, welche alle diese Satzungen vernehmen und sprechen werden: Nur ein weises und einsichtiges Volk ist diese große Nation“ (Deut. 4»).*)
Mordeehai ben Hillel Hakohen 5616—5697 (1856—1937)
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Die beste, weil wahrste Dichtung bleibt immer diejenige, die ohne Nebenabsicht, ohne Hintergedanken, also auch ohne den Gedanken an Veröffentlichung, niedergeschrieben wird. Freilich muß der Mann, der so niederschreibt, was sein Gemüt bewegt, ein Dichter sein. In dieser Weise etwas von einem Dichter war Mordeehai ben Hillel Ha-Cohen, "der vor einigen Monaten mehr als achtzigjährig starb. Nach anfänglicher journalistischer Tätigkeit an russischen und hebräischen Zeitschriften, wandte er sich mehr und mehr-geschäftlicher Tätigkeit — dem Holzhandel — .zu. Aber während seines langen Lebens, von denen die ersten 50 Jahre mit dem Schicksal der Juden in Rußland verbunden sind, die letzten 30 Jahre der Renaissance der Juden in Palästina gehören, machte er täglich — oft beim Mittagessen — Aufzeichnungen über seine Erlebnisse, seine Pläne und seine Hoffnungen für Israel. Auf diese Weise hat er uns eine Fülle von Denkwürdigkeiten hinterlassen, die echte Dichtung und obendrein Spiegel unserer Geschichte sind. Wir geben hier zwei Proben aus seinen Werken; die eine zeigt uns die Verbundenheit des Dichters mit seinem Tagebuch („Joman“) - aus der Zeit des Völkerkrieges; die andere ist von historischem Interesse, weil sie über die Entdeckung eines anderen großen Schriftstellers, Simon Dubnows, berichtet. Professor Josua Friedlaender hat einiges aus den Werken des Mordeehai ben Hillel Ha-Cohen übersetzt; es sei ihm an dieser Stelle für die Ueberlassung der nachfolgenden beiden Stücke besonders gedankt.
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Aua dem Tagebuch des Völkerkrieges
(Joman III 179.)
17. Ijar 5677 (1917.)
Einer meiner besten. Freunde, der mein Tagebuch kennt, warnte mich, mit meinen Aufzeichnungen recht vorsichtig zu sein, es könnte einmal eines meiner Hefte in
. *) Dieser Aufsats ist der soeben im Bert hold Levy Verlag erschienenen Schrift .Die jüdische Volksseele* von Oberrabbiner Dr. Adolf Altmann-Trier entnommen.
Holzhändler und Dichter
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