BERLIN, im J mar 1905.
No. 1.
Bericht der Grossloge für Deutschland
u. o. B. B.
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Fürsorge für die unbemittelten jüdischen Nervei und Geisteskranken.
von Br. Dr. Weing und Br. Dr. med. L
t e nj Bez.-Rabbiner, in Ems htenstein in Neuwied.
Es ist eine feststehend Tnatsache, dass in unserem an das Nervensystem jedes E 1 /einen sehr hohe Anforderungen stellenden Zeitalter die Zah :er Nerven- und Geisteskranken ganz bedeutend zugenomm*-f. hat, und die Statistik lehrt, dass. bei uns Jaden diese Zu nahm i am grössten ist,
Der Hauptgrund dafür ist wohl darin zu suchen, dass wir einen besonders hervorragenden Antheil an den geistigen Fortschritten auf allen Gebieten, an der Hebung von Hände und Industrie genommen, dass wir in dem immer erschwerteren Kampfe ums Dasein ganz besondere Schwierigkeiten zu über winden haben. Nach der Auskunft des Königl. Preuss. Statist Bureaus befanden sich bei der letzten Volkszählung allein in Preussen 1889 jüdische Geisteskranke (995 männl. 894 weibl). davon in Anstalten untergebracht 1322 jnd. Kranke (675 männl. 647 weibl.)
Während bei der Gesamtbevölkerung Preussens auf 1000 Einwohner drei Geisteskranke entfallen, kommen bei der jüdischen Bevölkerung Preussens allein" fünf Geisteskranke auf 1000 Einwohner.
Die Zahl der jüdischen Geisteskranken ist seit der letzten Volkszählung in Preussen unter Zugrundelegung der früheren
Steigerungsverhältnisse auf minlestens 2400 angewachsen. Von diesen 2400 Kranken kann man sicherlich zwei Drittel
als mittellos bezw. wenig bemitt-lt annehmen. «
Nach dem Verhältniss der P-völkerungszihl ist man berechtigt zu behaupten, dass in garifc Deutschland sich 3000
jüdische Geisteskranke bei len,
Nervenkranken, über die eine S
bei weitem höhere ist.
Ueber die Geisteskranken ha
in den Kreisen gebildeter Laien, u
denkt sich darunter zumeist Le
eigenen Ichs und der Aussenwelt
ist. In Wirklichkeit trifft die
meisten^ nur in den Endstadien de schwersten Erkrankungs formen auf. Bei einer grossen An- hl von Kranken handelt es sich nur um den Ausfall einzt ;r geistigen Funktionen, sogenannte Defekte.
während die Zahl der tistik nicht j besteht, eine
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man noch vielfach, selbst lare Vorstellungen. Man e, denen Bewusstsein des lüg abhanden gekommen >.efe Bewusstseinsstörung
Sowohl diese als ganz besonders das Gros der unter dem Bilde der Psyeho-Neurosen (Nervenschwäche. Verstimmungszu- stäude, Hysterie, chronische Intpxationen etc.) Erkrankten haben Einsicht genug von der sie Umgebenden Welt, und namentlich das religiöse Gefühl vieler dieser Unglücklichen i\t in "keiner Weise getrübt.
Der Aufenthalt in einer nicht - jüdischen; Anstalt ist für viele Kranken mit grossen Nachtheilen verknüpft. Sie fühlen sich in der ihrer ganzen Denk.- , und Empfindungsweise abweichenden Umgebung" recht unglücklich, in Vielen Fällen machen sie sich die grössten Gewissensbisse, über den Genuss nicht rituell zubereiteter Speisen, und verweigern hartnäckig die Nahrungsaufnahme. Oft sogar kommt es. wie wir aus zahlreichen Fällen wissen, zu konfessionellen Reibereien und Hänseleien seitens des Anstaltspersonals und der christlichen Patienten, so dass der Zweck des Aufenthalts in der Anstalt illusorisch, ja statt der erhofften Besserung geradezu eine Verschlechterung des Leidens herbeigeführt werden kann.
Nur in specifisch jüdischen. Anstalten kann der jüdische Geisteskranke vor allen derartigen ihm besonders schäd-' liehen seelischen Erregungen bewahrt bleiben und nur in solchen ist es ihm möglich, seine gewohnte Lebensweise unverändert fortzuführen; denn hier befindet er sich in einer ihm vertrauten Umgebung, die allen seinen religiösen Be-, dürfnissen liebevolles Verständniss entgegenbringt.
• : Für die wohlhabenderen der jüdischen Nerven- und Geisteskranken ist durch das Bestehen zweier Privatanstalten, der grossen Israelitischen Heil- und Pttegeanstalt für Nerven- und G«müthskranke zu Sayn bei Coblenz und der kleineren Anstalt zu Beckenheim gesorgt.
Was aber ist für die^ minderbegüterten und gänzlich mittellosen .jüdischen Nerven- und Geisteskranken geschehen? Wohl ist wiederholt auf diesen Nothstand öffentlich hingewiesen worden, aber in die That umgesetzt wurden diese Bestrebungen erst, als wir in Verbindung mit- 7 Brüdern im fruhjahr 1903 den „Hilfsverein für unbemittelte jüdische Nerven- und Geisteskranke zu Eins' c gründeten.
l'nser Aufruf zur Gründüng dieses Vereins faud den Beiall aller Einsichtigen, und wir hatten die Genugthuung, im Mißjahr Ii»03 klangvolle, gewichtige Namen im Gründungs- comite unseres Vereins zu verzeichnen.
Die Zustimmung, die unseren Bestrebungen von ^Uli- verständiger Seite zu Theil wurde, und die zahlreichen Auf-