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JÜDISCHES GEMEINDEBLATT FÜR DAS GEBIET DER RHEINPFALZ
Nr. 4
Mein Glückwunsch für die Gemeinde Speyer
von Rabbiner Dr. Ernst Steckel R. Jekuthicl ben Mosche, der in Speyer im 11. Jahrhundert Belebt hat und als Autorität auf dem Gebiete der Talmudforschung sowie als der Dichter bekannt ist, der den einleitenden Gesang zur Kcroba Kalirs für den ersten Neujahrstag verfaßt hat, (auf R. Jekuthicl ben Mosche geht mein sei. Lehrer am Jüdisch«*hco» logischen Seminar in Breslau, M. Brann, in dem Artikel „Speyer' (Vorarbeiten zur „Germania Judaica") in der Monatsschrift für Ge» schichte und Wissenschaft des Judentums, Neue Folge 17. Jahrgang, 1904 ein), richtet in diesem Gesang die Bitte zu Gott: „Gib mir, b Gott. Kraft und Mut und stehe mir zur Seite, daß ich nicht schwach und matt werde." Kraftvoll und mutig sein, niemals schwach und matt werden, diese Mahnung, die wir aus dem Gebet des R. Jekuthicl ben Mosche heraushören, war das Losungswort, das in der Gemeinde Speyer immer wieder in die Tat umgesetzt wurde, ganz besonders in den Verfolgungstagen des Mittelalters, in den Tagen des „Martyriums von Speyer'', z. B. im Jahre 1195, als die ganze Gemeinde von einem Pogrom betroffen wurde. * Mochte die Gemeinde auch fernerhin an diesem Losungsworte! festhalten, immer kraftvoll und mutig ihren Weg gehen und nie schwach und matt werden, ähnlich den makkabäischen Helden, deren wir uns in diesen Chanukkatagcn in unauslöschlicher Dank« barkeit erinnern. Wie sie bisher ihrer großen Vergangenheit sich immer bewußt blieb, möge sie ihrer stets eingedenk bleiben und niemals vergessen, daß in ihrer Mitte, etwa seit Ende des 11. Jahr« hunderts, seitdem wir sichere Zeugnisse über das Bestehen einer Gemeinde in Spever besitzen, Werke geschrieben wurden, die in der jüdischen Literaturgeschichte immer als Glanzleistungen fortleben werden. Die „Weisen von Speyer" mögen^nie in Vergessenheit geraten, wie in den Urkunden jene Männer heißen, die wir als die 'überragendsten Lehrer des mittelalterlichen Judentums be* zeichnen dürfen, weil sie in der scharfsinnigsten Weise den Talmud erforscht und erklärt und ihn auch wissenschaftlich behandelt haben und hier wahrhaft schöpferisch waren, weil sie auch uriser Gebetbuch durch Piutim und Selichot bereichert haben, die heute
macher, Ludwigshafen a. Rh
noch wie jener Gesang des R. Jekuthiel ben Mosche in unserer jüdischen Gemeinschaft gebetet werden. Man kann sich eine Vor« Stellung von der Bedeutung der „Weisen von Speyer" machen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß, wie in dem Artikel „Speyer" der Germania Judaica, Band I, 2, 1934 dargelegt wird, nach Ver» nichtung der Mainzer Gemeinde im Jahre 1084 die geistige Führung der Juden in Deutschland arr die Gemeinde Speyer überging, daß eine im Jahre 1156 in Troyes abgehaltene Rabbinersynode den Ge« meinden_Speyer, Worms und Mainz (Schum) das Richteramt über die Gemeinden in Deutschland übertrug.
Die Synagoge, die jetzt auf hundert Jahre ihres Bestehens zurückblicken kann, soll auch weiterhin ein Bet ha'kenesset, ein „Maus der Sammlung" sein, wie in der Mischna und von da an in der ganzen rabbinischen Literatur die Synagoge genannt wird, die Synagoge soll auch weiterhin der wahre und eigentliche Mittel* punkt der Gemeinde bleiben! Die Aufgabe, welche die Synagoge zu erfüllen hat, umreißt Zunz in seinem Buche „Die gottes* dienstlichen Vorträge der Juden" folgendermaßen: ......
Die Juden haben längst Selbständigkeit und Vaterland verloren, aber bei dem Untergang aller Institutionen blieb die Synagoge als einziger Träger ihrer Nationalität, dorthin floh ihr Glauben und von dort her empfingen sie Belehrung für ihren irdischen Wandel, Kraft und Ausdauer in unerhörten Leiden ...." (S. 1). Die ältesten
urkundlich bezeugten Synagogen in Speyer (ich bin auf jene ältesten Synagogen in der Gemeinde Speyer anläßlich des Syna« gogenjubiläums in einem Aufsatz in der Bayerischen Israel. Ge« meindezeitung (Nr. 21 v. 1. November d. J.) eingegangen), auch ihre Nachfolgerinnen und die jetzige Synagoge haben der Autgabe stets gedient, die Zunz der jüdischen Andachtsstätte zuweist. Möge das ehrwürdige Gotteshaus in. alle Zukunft, obwohl jetzt Tage des Abstiegs und des Niedergangs für die Gemeinde* gekommen sind, dieser Aufgabe in ihrem ganzen Umfange gerecht werden 1 Das ist mein Glückwunsch für die Gemeinde, in der als Rabbiner tätig zu sein ich als eine große Verpflichtung ansehe;
Zur Geschichte der Juden in Speyer
k Entstehung, Blütezeit und Niedergang
Vorbemerkung: Am 28. November 1937 begeht die Gemeinde Speyer, die älteste jüdische Gemeinde der Pfalz und eine der ältesten Niederlassungen in ganz Deutschland, das 100»jährige Bestehen ihrer neuen Synagoge. Unsere Gemeinde wird diesem Tag die Weihe eines Gedenktages geben : Die Erinnerung an unsere Geschichte irt Speyer wird aufgerufen werden. Wir tun dies nicht, um einem Jubiläum Genüge zu tun, sondern um aus unserer Geschichte zu lernen: Aus dem Gebanntsein in unserer Stunde wollen wir den Blick öffnen für den- Wandel alles Geschichtlichen. Aus der Hoff« nungslosigkeit unserer Tage wollen wir die Hoffnung aufrichten an dem geschichtlichen Zeugnis unserer Dauer. — Unter solchen Blickpunkten betrachtet, mag die folgende Skizzierung der Linien unseres engeren geschichtlichen Schicksals in Speyer über die Grenzen unserer Gemeinde hinaus allen Juden in der Pfalz sinnvoll sein.
wohnten die Juden in der Altstadt angesehen und ungestört unter den christlichen Bürgern. Seit etwa 1050
Am 13. September des Jahres 1084 erklärte der Bischof Rüdiger Huos» mann in einer Urkunde wörtlich, er glaube den Ruhm der Stadt Speyer tau» sendfach zu mehren, wenn er zugleich mit der Hingemeindung des Dorfes Altspevcr die dort wohnenden Juden aufnehme. Das ist die Gcburtsur« künde der jüdischen Gemeinde zu Speyer.
Erwiesen ist, daß Juden schon lange vorher, nämlich seit dem achten Jahrhundert, sich in Alt'Speyer, das an den großen Handelsstraßen Köln» Mailand und Köln»Narbonne gelegen war, angesiedelt hatten. Luther be« hauptet, daß schon in der frühesten Zeit des fränkischen Reiches hier Ju» den lebten, wenngleich die Geschichte der Kultur von den Juden der dama» Ilgen Zeit ebensowenig, wie von der Umwelt zu berichten weiß. Ja, eine Ansiedlung schon zu römischer Zeit ist wahrscheinlich. So zählt Speyer mit den anderen rheinischen Gemein» den Köln, Mainz und Worms zu den ältesten jirdischen Niedcrlas» sungen in Deutschland.
Die Erinnerung, die in die Zeit vor 1084 zurückgeht, trifft in der Spcy»
Klischee: Israel. Familienblatt
ercr Altstadt etwa um das Jahr 1000 Mauerreste der
auf Sprosse aus der berühmten italie» a | fen Speyerer Syr afoge aus dem 11. Jahrhundert
nischen Rabbinerfamilie Kalonymos
in einer schon damals bestehenden Judengemeinde, in deren Freiheiten und ihren
Talmudschule auch R a s c h i gelernt hat. — Bis in diese Zeit deutschen Reich bei Zollfreiheit Handel treiben, in Prozessen mit
aber mußten sie vor Ausschreitungen geschützt werden.
So zog Bischof Rüdiger seine jü« dischen Untertanen auf einem beson« deren Gelände zusammen, das er zu ihrem Schutz mit Mauern umgeben ließ. Hier ist zur erstenmal in Deutsch« land das Ghetto erwähnt, das nur zum Schutz der Juden errichtet wurde. Im gleichen Jahr nahm der Bischof viele Juden aus Mainz auf, wodurch die Gemeinde rasch emporblühen konnte. In dem Privileg gewährte er ihnen Freiheiten und Rechte, wie sie die Juden in Deutschland damals nirgends besaßen: Handelsfreiheit, eigene Gerichtsbarkeit unter einem sogenannten Archisynagogus, das Recht, Grundbesitz zu erwerben, christliche Dienstboten zu halten usw. Dafür sollten ihm die Juden jähr« lieh 3 1 Pfund Speyerer Geldes zahlen.
Als sechs Jahre später, im Jahre 1090 Kaiser Heinrich IV. nach Speyer kam, ließen sich die Speyerer Juden durch Vermittlung des ihnen wohlgesinnten Bischofs auch unter seinen Schutz nehmen. Er bestätigte ihnen ihr Privileg ur 1 vermehrte ihre Rechtsschutz. Sie konnten im ganzen