Jüdisches Gemeindeblatt
für das Gebiet der Rheinpfalz
Organ des Verbandes der israeii- tischen Kultusgemeinden der Pfalz
Herausgeber: Verband der israel. Kultusgemeinden der Pfalz, \r \F Angemeldet beim Sonderbeauftragten des Reichsministers für Landau/Pfalz. Verlag: Heinrich Wildmann, Philippsburg. £^J^ Volksaufklärung und Propaganda betr. Ueberwachung der Verantwortlich f. d. Inhalt: Kurt Metzger, Landau, Glacisstr.9 \f geistig und kulturell tätigen Juden im deutschen Reichsgebiet
Erscheint monatlich 1. März 1938 / n'jnn N TW PO 1. Jahrgang / Nr. 7
Zählung der hilfsbereiten Juden in Deutschland
am Sonntag, den 27. Februar 1938 Wie begründet das jüdische Schrifttum die Zählung der hilfsbereiten Juden?
Zählung Oer hilfebereuen
Die Verordnung im II. Buch Moses, Kap. 30, Vers 11 und 12, die den Leitspruch dieser Aktion bild.-t. wird im jüdischen Schrift» tum wiederholt erörtert.
Nach der Verordnung der Schrift, daß jeder, der durch die Mu» sterung hindurchgeht, ein Sühnegeld zahlen soll, scheint die Schrift von der Anschauung auszugchen, ab ob schon die Vornahme der Zählung selbst eine Handlung sei, die gesühnt werden müsse. Es gibt andere Stellen der Schrift, die von einer Musterung des jüdischen Volkes erzählen, ohne daß diese Tatsache als etwas zu Sühnendes betrach'.et wird. Die alten Schriften versuchen diese Schwierigkeit zu deuten und zu lösen (vgl. Pesikta Kap. II). Von den vielen Deu« hingen, die sie an dieser Stelle geben, erscheint folgende besonders einleuch< tend: Jede Zählung ist durch die Absicht, in der sie unternommen wird, bedingt. Eine Zählung kann zu nützlichen, kann aber auch zu schädlichen Zwecken unter» nommen werden. Kol seman schemimnu jisroel lezaurech, lau chossru; Sch'Iau lezaurech chossru. „Immer wenn Israel zu notwendigen Zwecken gezählt wurde, war es nicht verderblich: geschah es aber aus nicht gerechtfertigten Motiven, brachte es Schaden." Darunter versteht die Schrift folgendes: Wenn ein Mann wie Mose z. B. das gesamte Volk mustert, um sich angesichts der Aufgaben, die dieses Volk auf seinem Weg durch die Wüste und in das Land der Zukunft - zu lösen hat, einen UebeTblick über die Kräfte und den Einsatz jedes Einzelnen an seinen Platz zu verschaffen, um die Ordnung zu bestimmen, die die notwendi Grundlage jedes erfolgreichen Weges in die Zukunft ist, und dadurch also gleichsam alle Kräfte zu organisieren und aufzurufen, die das Volk entfalten muß, ist eine solche Musterung berechtigt. Sie entspringt den reinsten und edelsten Motiven und dient der Gesamtheit und jedem Einzclr.cn. Da es aber auch Zählungen gibt, die oftmals nicht aus solchen
JÜDISCHE WINTERHILFE
Juöcn in DeutlctiLinö
£7. Februar 1938
edlen Motiven unternommen werden und sich schwer entscheiden läßt, ob ihr gute oder schlechte Motive zu Grunde liegen, hat, so sagt die Pesikta, die Schrift angeordnet, daß bei jeder Zählung ein Sühnegeld für jede Seele zu entrichten sei.
Die Mischnah (Schckalim II) weist darauf hin, daß früher in Palästina diese Abgabe jährlich gezahlt wurde. Ihr Ertrag wurde für die fälligen Opfer, an denen das ganze Volk beteiligt sein sollte, für Wege und Straßenbauten in Jerusalem, als dem sichtbarsten Wahrzeichen des ganzen Volkes ,für Was» serrcgulicrungcn und andere gemeinnüt» zige Arbeiten verwendet. Diese Abgabe war eine Art Kopfsteuer, deren Ertrag zur Deckung solcher Ausgaben bestimmt war, die dem Interesse der Gesamtheit dienten.
Im gleichen Sinne ist auch die Mid« rasch b'midbar rabba 12 sowie der Talmud jeruschalmi (Schckalim IV) zu verstehen. Dort heißt es: Rabbi Meir sagt, Gott habe unter seinem Thron eine Art Feuer» münze hervorgeholt und sie Mose ge» zeigt mit dem Hinweis, die Steuer solle Münzen wie diese ihm gezeigte, enthalten. Der Sinn dieser Stelle ist nach einer herkömmlichen Deutung ein Vergleich alles Geldes mit dem Feuer. Geld ist wie Feuer. Feuer hat die besten Eigenschaften in sich. Es gibt Licht und Wärme. Es ist die Grundlage alles organischen Lebens und Gedeihens und zugleich Fundament der Technik und der Zivilisation.
Aber so nützlich 'Feuer sein kann, so gefährlich kann « werden. Ein Funke verbrennt zu Asche, was Hunderte von Händen in langen Jahren aufgebaut und gepflanzt haben. Deswegen wird das Geld mit dem Feuer verglichen. Es kann Verderben bringen, Menschen zu Verbrechern erniedrigen und die Ursache von Haß werden. Zugleich aber dient es dem größten Nutzen. Es lindert Elend, heilt Wunde», schafft Glück und Wohlstand.
Weshalb führen wir die Zählung der hilfsbereiten Juden durch?
Die Zählung der hilfsbereiten Juden in Deutschland, die die Jüdische Winterhilfe am Sonntag, den 27. Februar d. Js., in Form einer Haussammlung in ' allen jüdischen Gemeinden des Reiches durchführt, dient der Aufgabe, den Juden in den besonders notleidenden Klein« und Mittelgemeinden eine zusätzliche Hilfe zu bringen.
Die Not in vielen Klein» und Mittelgemeinden hat sich in diesem Jahr außerordentlich verschärft. Der fünfte Teil der von der Jüdischen Winterhilfe Unterstützten 'könnte von ihr ohne Hergabe zentraler Mittel nicht versorgt werden.
Eine starke Abwanderung ist in vielen Gemeinden zu ver» zeichnen; wenn auch die absolute Zahl der Hilfsbedürftigen in diesen Gemeinden im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen ist, so ist doch eine Zunahme des Anteils der Hilfsbedürftigen an det jüdischen Gesamtbevölkerung zu beobachten und somit eine Zu« nähme der Not.
Es betrug der Anteil der Hilfsbedürftigen:
lihli
1936/37
19.6 o/o 25.1 o/o 30,9 o/o
28.7 o/o 29,3 o/o
1937 '38 31,1 o/o 29,1 o/o 35,8 <>'o 36.1 o/o 45.6 o/o
in Schleswig»Holstcin in Pommern in Ostpreußen in Hesscn»Nassau im Landkreis Fricdberg»Hesscn In einzelnen Klcingcnicindcn sind weit mehr als die Hälfte in einem Fall fast 90 °/o der Gcmcindcmitgliedcr hilfsbedürftig, Hierfür seien einige Beispiele angeführt: Alt'Landsberg
140 Gcmcindemitglicder, davon 70 Hilfsbedürftige; Johannisburg/Opr.
59 Gemcindemitglicdcr, davon 54 Hilfsbedürftige; Neidenburg
60 Gemcindemitgliedcr, davon 45 Hilfsbedürftige;