Jüdisches Gemeindeblatt
für die Israelitischen Gemeinden in Württemberg
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XIV. Jahrgang
Stuttgart, 1.
Juni 1937
Mr. 5
Judenknabe im Schwarzwalddorf
Von Alfred Auerbach. Frankfurt a. M.
Der Vater war ein stiller, friedlicher Mann, ging den braven Oewohnheitsweg, zeichnete sich l durch seinen rechtlichen Sinn aus. Die Mutter war eine Frau' aus einer Musikantenfamilie, mit Phantasie begabt. Sie hatte Geschmack und schneiderte, wie keine andere Frau in der Gegend.
Sie fiel mit ihrem ausgesprochen künstlerischen Sinn hier also angenehm auf und hatte Gelegenheit, den Mann, der geschäftlich wenig betriebsam war, zu unterstützen. Die fünf Kinder zu erhalten und zu erziehen, war schon eine Aufgabe, wenn auch damals erst die Dutzendzahl der Nachkommen das Liebliche war.
Frau Ruth, die Mutter, sah in jedem ihrer [ Kinder eine Verheißung. Das war bei den Urgroßeltern keine Seltenheit, die Zeit lag vor diesen i Leutchen als eine lichtvolle Verheißung, und eine Frau wie Ruth malte sich das Geschick ihres Jakob und ihres Joel, ihres Simon, ihrer Leah und Esther mit ganz besonderen Farben aus.
Aber diese Frau wußte wohl, daß man damit allein nicht Zukunft schuf, sie packte auch mit realem Sinn zu und ging auf die Dörfer, um den Frauen und Mädchen hübsche Kleider zu machen, aus denen dann für die Kinder Garderobe beschafft werden konnte. Sie sahen gut aus, die kleinen Sontheims. Nur limon nicht, er konnte anhaben, was er wollte, es stand ihm nicht, das kam, weil er sich aus äußeren Dingen gar nichts machte. Er ging jw schlenkernd daher und beschmutzte sich unacht-
* sam. Er war ein wunderlicher Junge.
./ , Als er Bannizwo wurde, sprach er seine Stelle ^| im Tempel auf seine Weise, träumte sie vor sich 11 hin und blieb stecken, so daß er zum Gegenstand des Spottes wurde. Dieser Augenblick blieb im
, Gedächtnis der Leute und, wenn man von ihm
1 sprach, schmunzelten sie. —
I Simon hielt sich ganz an die Mutter, aber 1 nicht an die praktische Frau Ruth, nein — an die «andere, die reich war an Gesichten und Geschich- Sten und von der er seine Art im Geblüt hatte. Mit der Mutter im Gebirge wandern zu dürfen, das war seine Freude. Dann kamen wohl die '»I Schwätzer und schüttelten die Köpfe über den ?Jungen: „Ruth, dein Junge liest zu viel. Er ist Jbleich und schmal und sieht gar nicht aus, als *ob er vom Land wäre..."
' Einerlei, das Gerede ging ihn nichts an. Er bah in die Ferne und hörte die Lerchen, bis sich lldie Begleiter davon gemacht hatten, denn auch I j Ruth gab nicht Antwort, sie lächelte nur.
• Dann nahmen sich die zwei an der Hand, wanderten fröhlich, und die Ruth fing an, ihre Einfälle und Erinnerungen für das Sorgenkind zu be-
\ richten. —
Sie kamen durch eine Schlucht, die den Knaben immer erschreckt hatte. Ein Gebirgsbach hatte sie geformt, phantastisch in den Berg gerissen, da stand ein Baum, der sah unheimlich aus, geknickt, und unter einem Ast lugte eine dunkle Stelle wie ein böses Auge heraus. Ruth kannte die Sage, die im Volk herumging, und sie begann:
„Hier stand einst der Teufel auf der Lauer und wartete auf Opfer. Wenn sie sich von ihm verführen ließen, nahm er sie und warf sie in die Schlucht, denn die ist der Eingang zur Hölle.
Die Bauern schlagen ein Kreuz, wenn sie hier vorbeikommen, und die Juden sprechen ein Gebet, damit sie nicht belästigt werden.
Einst ging hier ein armer Handelsmann vorbei, als es schon finster war, und ehe er noch sein Gebet sprach, erschien eine Frau, die kam aus dem Dickicht und tanzte und winkte dem armen Mann. Er blieb staunend stehen, nie hatte er etwas so Schönes erschaut. Da — auf ein Zeichen Satans tat sich ein Saal auf und in dem war ein reiches Gelage, und es ging hoch her, und Wein und Speisen wurden gereicht nach Herzenslust. Die Teufelin war schon ihrer Sache gewiß, sie rief:
„Komm her und nimm dein Teil, sollst es alle Zeit gut haben, armer Jude, hast bis jetzt doch nichts gehabt, als Elend."
Und sie reichte bereits die Hand herüber. Aber der Handelsmann war allezeit ein frommer Mann gewesen und, ohne, daß er sich dessen bewußt war, sprach er nun sein Gebet.
Da schleuderte Satan, denn der war die Erscheinung, in der Wut einen Blitz, der traf aber nicht den Juden, sondern den Baum und zerfetzte ihn so, daß der Ast sich so seltsam verbog, daß ein böses Auge aus ihm wurde, und ein kleiner Stumpf über dem Baumkrüppel blieb und zeigte warnend gen Himmel. Nun vergißt hier niemand mehr sein Gebet. <
Simon hörte diese Geschichte mit seinem Hunger nach wundersamen Dingen.
Sie wanderten weiter, Mutter und Sohn, und kamen ins Nachbardorf zu einem Verwandten, der ein Sonderline war. Er saß am Fenster in einem grellen Schlafrock, vor ihm auf einem Schemel war ein Polster und auf dem Polster lag ein Stock.
Der Mann sah zum Fenster hinaus in einen Spiegel, der alles auffing, was da draußen daherkam und, wenn einer vorüberging, den der alte Mann haßte, dann schlug er mit dem Stock auf das Polster.
Dann lachte er grell auf.
Simon graute vor dem Mann. — Er befragte die Mutter, als sie von dannen gingen.
Sie erklärte ihm, daß der Verwandte im Grunde ein guter Mann war, daß er aber allzu viel Undank erlebt hatte.
Nun ließ er seinen Menschenhaß an einem Polster aus.
„Es wäre schon besser, wenn es jeder so machte!" setzte die Frau lächelnd hinzu, aber Simon grübelte lange über das schauerliche Erlebnis nach. — Wieder wanderte er mit der Mutter über Land. Da war eine Familie, die viele Töchter hatte. Mutter Ruth hatte Modezeitungen bei sich, sie überlegte, wie sie den Mädchen, die recht wohlgenährt waren, den neuesten Schnitt zurecht machen sollte. Es war eine Frage, schwer lösbar, wie die Quadratur des Kreises. Frau Ruth war diesmal wenig gesprächig und Simon ging still neben ihr her. Im Don wurden sie mit großem Lärm empfangen. Die Familie beredete erst einmal den guten Jungen, er sei schmal und er denke zu viel, und was er werden wolle? Dann ging man zur Kleiderfrage über und das
gab noch mehr Lärm. Man trug jetzt Puffärmel, halblang — das war nicht gut für Emilie und nicht für Rosette und noch weniger für Henriette, die an Gewicht den beiden zusammen gleichkam. Das Problem erregte ein Geschrei, Frau Ruth war umtobt davon. Simon sah in das Nebenzimmer und entdeckte dort einen Lehnstuhl, der mit einem Stoff überzogen war, in den waren Beterhände eingewoben und Chanukkalampen und biblische Gestalten. Das zog ihn an. Er ging hinein, um den Stuhl herum, und schau, da saß ein Greis ganz still im Sessel, er schien zu schlafen. Sein Bart war lang und schneeweiß. Simon wollte sich entfernen, da öffnete der alte Mann langsam die Augen und hob die zitternden Hände. Simon blieb stehen. Der Greis sprach:
„Wie heißt du 2" „Simon Sontheim." „Von drüben?" „Ja."
Der Greis schien nachzudenken. Das laute Gerede im andern Zimmer störte ihn, Simon ging hin und machte die Tür zu.
Der Alte nickte dankend, dann winkte er den Jungen heran, strich ihm über die Wangen:-
„Du scheinst ein "guter Junge."
Der Lärm da drin um die Modefragen wuchs, er tat dem Alten weh und auch dem Jungen. Nun kam ein feines Leuchten über das welke Gesicht, der Greis sagte ganz leise:
„Ich begreife die Welt nicht mehr und du begreifst sie noch n i c h t." öer Patriarch legte dem Knaben die Hand auf den Kopf und sprach:
„Du wirst es schwer haben, mein Junge, Gott sei mit dir." Dann sank er müde zurück.
Die Mutter Ruth war endlich so weit, sie suchte ihren Jungen und fand ihn vor dem Stuhl des Alten. Sie fragte auf dem Heimwege nicht viel und Simon ging rasch in seine Stube, die Rätsel des Daseins fielen über ihn her. Er schlief spat ein. Er wurde später ein vielgenannter Poet!
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