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Gründe für und wider war eine sehr lebhafte, jede Forderung und jede Ablehn״"g bedurfte der Begründung, doch ,vollen wir nicht un'״E!sen, hierbei ein wichtiges Moment hervorzuheben, «..ugerlich und formell betreffen die Differenzen nicht die Nütz- lichkeit oder Rothwendigkeit der zu schaffenden oder zu for- mirenden Gesetze, sondern die Frage, ob die denselben zu Grunde liegende Idee eine biblische und in legaler Form aus einem bibl. Ausspruch zu deduciren fei. Wer aber die Quellen mehr als oberflächlich gelesen, der hat oft die Wahrnehmung gemacht, daß gerade die praktische Frage die Entscheidung be- stimmte. Halten wir nur gegenwärtig, daß all das Sinnen und Trachten, Denken und Fühlen jener heiligen Männer mit dem Gotteswort und Gottesgebot nach allen Seiten verflochten, verwoben und verschlungen, daß sie selbst und schon vermöge der Eigenart ihrer Zustände, all ihr Bedürfen und Verlangen mit dem Gotteswort naturgemäß harmonirte und sich sozu- sagen gegenseitig ergänzte, so begreifen wir, daß die Frage nach der Oportunität mit der andern riach dem biblischen Charakter der neu sestzustellenden Gesetze zusammensallen mußte. Was ihren Bedürfnissen und Rechtsanschauungen adäquat war, konnte von vornherein nicht undiblisch ,ein; schien Einem aber etwas unbiblisch, so war es 60 ipso oder richtiger schon ohne dies seinen Rechtsgrundsätzen und Anschauungen zuwider. Die Schranken, welche der moderne Rechtslehrer der Gesetzgebung auflegt, daß sie nur das in gesetzliche Form bringe, was sich im Rechtsbewußlsein des Volkes, richtiger des geistesthätigen urtheilsgebildeten Theiles oesselben bereits entwickelt hat und zum Bedürsniß geworden ist, haben auch die Gssetzcsfaktoren jener Zeit nicht überschritten, freilich ohne daß s!c sich dessen klar geworden wären. Im späteren Lehrhause war es auch sonst wie in einem nwdernen Parlamente zugegangen, die Mil- glieder, in Parteien getrennt, schaarten sich um einzelne Anh- rer, nicht selten gab es recht heftige Debatten, erregte Ver- Handlungen; nach den Auseinandersetzungen, Erörterungen der Gründe für u. wider wurde abgestiimut, die Majorität entschied. \)
Man hat gefragt, wodurch wohl diese parlamentarische Form der Debatte und Motivirung geschaffen wurde, man nahm an, daß der Modus des gerichtlichen Verfahrens in Kriminalsällen, wo das pro und oontra reiflich erwogen wer׳ den muß, ihre Entstehung veranlaßte. J ) In der Thal aber ist jene Form der Verhandlung ein Erzeugniß der eeclesia 11m»na, über welche wir noch zu handeln haben werden, und die man entschieden als Volksparlamen: charakterisircn kann und charaktcrisirt hat. Später ging diese Art der Verband- lung auf das Synhedrium und das Lehrhaus über, und die Sammler des Talmud hatten dies ebenfalls berücksichtigen müssen.
So suchte man das ganze Lebe» religiös zu gestalten; die Goltesgemcinschaft, die Gotlesangehörigkeit sollte nicht blos im össenllichen Leben, im Leben der Genieinde, sondern im Verhalten auch des Einzelnen bei jeder Gelegenheit und allen Vorfällen dotumentirt werden: in jeder Luge handelte man nach dem Gotiesgeietz! Die : ibel, vorzüglich allerdings der Pentateuch mußte >edes ideale Verlangen befriedigen, hier suchte und fand jeder das Ziel seiner Bestrebungen u. Wünsche.
2 ) Daß sich bald eine Art Geschäftsordnung siir den Gang der De- batten und den Modus der Abstimmungen ausgebildet, zeigen die Bruch- stucke der Tosista Synhedr. 7. ׳vgl. Joses Aknin Einl. i. d. Talmud. Herausgeg. v. Lehrereolleg. d. jüd.-theol. Seminars. Breslau 1871. An. 1.
3) Jos. Akn. a. a. O. 2. 1.
In Fällen aber, wo im Pentateuch trotz vielen Suchens für irgend eine neu zu tretende Bestinrmung keine Andeutung sich heraussinden ließ, griff man zu den übrigen heil. Schriften. Hatte der Prophet nicht auch im Rainen Gottes geredet? Warum sollte das spätere Gotteswort weniger Gewicht haben, als das frühere? Alle Bücher, in denen Gottes Geist sich kund thut, enthalten Lehren und Gesetze; es gilt nur sie heraus- zufinden, nach der ״ Ziegel" richtig abzuleilen. Eine große Au- zahl von cutuellen, rituellen, kriminal-, civil- und Wechsel- rechtlichen Bestimmungen, sowie Verordnungen über das Eherechl, über Erbschaft u. s. w., Bestimmungen über das Opferwejen, über die zu beachtende levitifche Reinheit bei Eß- waaren, über die abzuhaltcnde Trauer bei Todesfällen hatte nmn auf Grund der Aussprüche des späteren Schriftthums getroffen. *)
Bei dieser eigenthümlichen Interpretationsart der heil. Schriften waren natürlich gewiffe Grundsätze befolgt worden. Es sind die hermeneulischeit Regeln, ״ Middoth" geheißeil, welche später Hillel, Ismael, Elieser, Sohn des Galiläers Jose, sam- melten, deren Zahl aber Ewald unbegreiflicher Weife und durchaus incorrect als 18 angibt. Diese Ziegeln wurden streng beachtet und standen in solchem Ansehen, daß man sie ,auf Moses zurücksührtc. Alle Gesetze, die man mittelst dieser Regeln ans der Schrift deducirie, hatten dadurch gleichsam die Autorität des Zltoses siir sich; neben nranchen uralten Ver- ordnungen und Gebräuchen, deren Entstehen historisch sich nicht ermitteln läßt, bezeichnete man auch sie als ״ Halacha le-Mo- sehe ini-Sinai.“ 5 J
Aber nicht blos halachisch wurden die Schriften benutzt, sondern auch agadisch.
Der 666 I 6 sia magna wird mit Recht die Schöpfung des Mi- drasch Halachoth wcagadoth glaubwürdig zugeschrieben. Die ursprüngliche Ausgabe der Agada war wohl, zu zeigen, wie die sittliche Idee iin Gesetze sich kundgiebt, zu verhindern, daß die Gesetzesübung zu einem gedankenlosen Formenspiel herab- sinke. Sie machte einen bedeutenden Bestandtheil der sopheri- scheu Vorträge aus, und abgesehen von dem wichtigen Zeugniß Schekalim jcr. 5 , 1 , fehlt es auch sonst nicht an Beweisen, daß der Ursprung der Agada ein sehr alter, und jedenfalls nicht jünger als der der Halacha sei.
Seit dem Hereinziehen der übrigen heil. Schriften in den Kreis dieser Schristanslegung sahen sich die legislatorisch thä- tigen Schriftgelehrten der eedesia magna vor eine ernste, tiefgreifende Principiensrage gestellt, welche eine bestimmte
4« Aus einige Stellen will ich verweisen; UI» sie alle anzusühren. ist ihre Jahl zu groh. ttetub. 10 a. 25 a, 85 b, 47 a. Jeb. 8V b, 8V a, Baba M 47 a, 81 b, Pest. 17 a, 88 d, 88 a, 85 b, 82 a. Beza
12 d, Chag. 2 a, 8 b, 10 a 11 . b, Wittin 61 a, Baba B. 13 a; Grachin
2 b, Gdijoth I >3. Moed Kaum l« a, 17 b. Baba U. 2 b, 12 a,
21 a, Baba B. 2> a, >73 b, 160 b, Aboba 2. 50 b. Die Beispiele
lassen sich hunderlfach vermehren. Nur ist cs schwierig, die alleren von den jüngeren Halachoth zu sonder». Allein soviel ist klar und läßt sich b>s zur Evidenz Nachweisen, daß auch die alte Halachah blos Sprüche der Propheten als Basis neuer Gesetze benutzt.
5, Schemoih Naba § 41 הקב״ה למד למשה הכללים Beroch. 5. !»rat Eohanun Bechukotai Sj 8. Jcr. Ehag 1, 1. Meg. 8, 1. — Babli Nida 45 a., wo dem Moses Alles, selbst מה שתלמיד וותיק עתיד לחדש zugejchrieben wird, wird durch jene Aussage Nlchl widersprochen, sondern erklärt und ergänzt. Dort heißt es sogar, daß nicht nur alle Propheten ihre Prophetie vom Sinai empfingen, sonder» auch die Wei- sei! jeder Generation ein Jeder das Seine.