Nr. 22.
Baden bei Wien, 7 ♦ September 1894,
Jahrgang 1
Acichsbote.
Zeitschrift für sariale, wissenschaftliche «nd Tullns - Interessen de» Indenth««»
- Beilage: Vollständige Uebersetzung des Talmud.
Herausgeber! Rabbiner W. Reich und Dr. Leopold Goldhammer. K~
Redactenr: Rabbiner Heinrich L. Reich.
Erscheint jeden Freitag.
Bezugspreis für Oesterreich-Ungarn: Ganzjährig fl. 6.—, halbjährig fl. 3.—. Für das Aaeland jährlich 12 Mark. — Für Rabbiner, Cultusbeamte und Lehrer jährlich 4 fl. — Anzeigen: Die dreimal gespaltene Non-
pareillezcile 12 kr. — Einzelne Exemplare 20 kr.
Redaction, Expedition und Administration: Baden bei Wien f Rathhausgasse Nr. 9.
Inhalt: Die ReichSboisihaft. — Die Ethik int Talmud. — Nachrichten. — Eorrespondenz: Baden, Wien, Böslau, Graz, Krakau, Prag, Kostet, Neutra, Sasvar, Köln, Karlsruhe, Zürich, Warschau, Riga, Nkw-Hork — Studien eines Feldmarschalls über das Priester-Orakel der alten Hebräer. — Der Philosoph Mendelssohn und Friedrich der Große.
— Feuilleton: Der Jude. — Literatur. — Danksagung, — Wochenkalender. — Inserate,
Beilage: Seite 79—82, Talmud-lleberjetzung von Rabbiner Wilhelm Reich, (Nachdruck verboten. —liebersetzungsrecht Vorbehalten.)
Neueintretenden Abonnenten werden auf Wunsch die bisher erschienenen Beilagen, welche die Talmud-Nbersetzung enthalten, nachgeliefert.
Die Neichsbotschasl.
Alltäglich erhoffen wir Israeliten, gemäß dem so schönen und schwungvollen Schlußgebete ' (Alenu), das eigentlich mehr eine Glorification i und Verherrlichung des Weltenherrn und nur indirect eine Bitte um baldiges Herannahen der von den Propheten vorhergeseheneu und vorhergesagten messianischen Zeit enthält, den Anbruch der herrlichen Epoche des „Gottesreiches", allein auch hier gilt das Wort: Wir hören wohl die Botschaft, doch Vielen fehlt der Glaube!
Und doch lassen sich nicht in Abrede stellen, und der auf der Zinne der Zeit Stehende und tiefer Blickende bemerkt sie auch, die unverkennbaren Zeichen und Spuren vom gewaltigen Wandel der allgemeinen Welt- und Lebensanschauung, man fühlt fast das Wehen und Malten eines neuen, schöpferischen Geistes in der Menschheit, die, wie auch Israel am Wendepunkte eines neuen Geschichts- abschnittes steht und die Wehen dieser geistigen und moralischen Wiedergeburt nach langer Stagnation
und Sterilität jedem Denkenden fühlbarund vernehmlich werden. „Sollte beim die Erde an eine m Tage geschaffen, oder eine Natjon auf einmql gezeugt werden?" spricht der Prophet und wie könnten wir erwarten, daß die prophetischen Weissagungen und Verkündigungen der h Schrift vom Reiche Gottes mit einem Mal fix und fertig in's Dasein treten und plötzlich buchstäblich fich erfüllen könnten?
„Natura non facit saltus", ist ein ganz richtiges und wahres Wort und es kann auch auf die Veränderung und Metamorphose der geistigen Natur angewendet werden, Schon sehen wir, daß allenthalben sich Friedensgesellschaften bilden, daß interparlamentarische Eonferenzen j und Eongresse alljährlich in verschiedenen Ländern ! und Großstädten abgehalten werden, daß sogar s die studirende Jugend', die sonst gewohnt ist, in | Duellen und Mensuren den kriegerischen Sinn zu pflegen, an vielen Universitäten academische Friedensvereine gründet, behufs Förderung der Idee, daß internationale Streitigkeiten nicht mehr auf der Schneide des Schwertes, sondern durch allgemein anerkannte Schiedsgerichte friedlich geschlichtet werden, ein Vorbild und Vorbote, eine Vorbedeutung und Vorbereitung des allgemeinen Bölkerfriedrns.