Nach fünfzig Jahre

(Ports, v. S. 8)

dern hungrig weiter, nun für ein paar Minuten wirklich durch Breslau: obwohl es schon dunkelt, wird rechter Hand Stadtgraben mit Kirche er­kennbar, linker Hand die Oper, man spielt heute abendBorodin, ohne uns, aber die Passade sieht aus wie eh und je. Ch. nach stundenlangem Sit­zen hinter dem Steuer fast schon gehunfähig. Nach zwei Minuten wird die Schweidnitzer Strasse unerkennbar, rechts und links, kurz vor dem Ring, gesichtslose, in jeder Kleinstadt (aber nur dort) glaubhafte Wohn- und Ladenhäuser. Und dann.

Das kann nicht stimmen. Ring und Rathaus stehen. Also steht auch 1905 oder 1915. Argwöh­nisch blicke ich mich um, aber nichts fehlt, selbst die alten Patrizierhäuser zur Linken sind da, noch da, wieder da, weiss der Kuckuck. Da ich nicht verbergen kann, dass etwas in mir vorgeht, lässt sie den Kopf hängen, sie scheint sich etwas zu schämen, so spät geboren zu sein, so jung zu sein, schliesslich hatte sie nach demjenigen Tage, an dem ich das hier zum letzten Male gesehen habe, nach fünfzehn Jahre auf ihr Geborenwerden zu warten.Hier essen wir, behaupte ich mit künst­licher Munterkeit, um den Bann zu brechen, und ich meinte den gerühmten Rathauskeller, dessen gotisches Kreuzgewölbe mir aus der Heimatkunde im Johannisgymnasium 1912 bekannt ist. Natür­lich nur von dort, aber das lässt sich ja nach­holen, never say too late, siehe da, den Keller gibt es wirklich, noch oder schon wieder, weiss der Kuckuck nur, dass es ausserdem noch et­was anderes dort gibt: Aus der Tiefe, aus der Gruft des Gewesenen, tönt uns nämlich Amerika entgegen, Jazz, mindestens die sonderbare Mi­schung von Jazz und Polka, die hier als Jazz gilt. Und selbst wenn wir dem gewachsen wären, wenn wir die Kraft hätten, aus Auschwitz kommend und nach zehn Stunden heisser Fahrt und nach fünf­zig Jahren Abwesenheit, und im Kreuzgewölbe des 14. oder 15. Jahrhunderts Gulash essend, uns Jazz anzuhören es würde uns gar nicht gelingen, bis

Zwi Heinrich Graetz

(Ports, v. Seite 2)

ren durchaus nicht verächtlich gegen irgendwel­che Juden in kleinen Gemeinden gedacht. Man stellte damit nur nüchtern fest, was schon gewor­den wäre, wenn Graetz in irgendeiner kleinen oder selbst grösseren Kehillah Rabbiner geworden wä­re. Er hätte dieser Gemeinde und vielleicht auch ein wenig über sie hinaus jüdische Werte geben können. Aber nur dadurch, dass er eine Lehr- und Forschungstätigkeit an dem einzigen damals beste­henden Rabbinerseminar hatte, blieb ihm Müsse und Möglichkeit zur weltumfassenden Geschichte des jüdischen Volkes.

Ausser dieser umfassenden Arbeit hat er zu den verschiedensten wissenschaftlichen Prägen Stellung genommen. Schon im ersten Jubiläums­buch des Breslauer Seminars (1905) werden nicht weniger als 232 Werke, grösstenteils in Zeitschrif­ten erschienen, angeführt, und es wird ausdrück­lich bemerkt, dass er noch weitere hundert und mehr kürzere Aufsätze und Bücherbesprechungen verfasst habe.

Prof. Baruch Kurzweil von der Bar-Ilan-Uni- versitgt bezeichnete vor einigen Jahren in einem Vortrag Graetz als dengrössten Historiker des jüdischen Volkes. Ein solches Werturteil ist etwas gefährlich, denn es stellt jeden anderen Histori­ker unter ihn. Viel bequemer wäre es, Graetz als einen der grössten Historiker zu bezeichnen, wo­durch jede Diskriminierung entfällt. Aber wenn ei-

nach unten vorzustossen, die Stufen sind von so vielen, zumeist beatlehaften, Jugendlichen belagert, und von so vielen Jazzfans, die ein paar Synkopen erhaschen wollen, weil sie diese für Symbole des Trotzes, der Frechheit und der Freiheit halten, dass jeder Versuch, gar der Versuch von uns Deutschsprechenden, durchzubrechen vergeblich bleiben würde.

Resigniert machen wir kehrt, irgendwo heute noch Essen aufgabeln zu können, scheint uns uto­pisch Unternehmen aber, wieder am Bahnhof an­gekommen, einen letzten Versuch. Und siehe da, im Wartesaal, obwohl jetzt noch wimmelnd (Sam­stagnacht und Perienbeginn), werden gerade zwei Plätze frei. Sitzen mit Polen am Tisch, deren Sta­tus und Beruf uns unerkennbar. Sie, obwohl wir für sie Bundesrepublikaner sind, sehr höflich und sehr hilfsbereit wie denn unsere Höflichkeit nie­mals mit falscher Münze zurückbezahlt wird. Sie versuchen, die Speisekarte für uns zu übersetzen, übersetzen aber irrtümlicherweise aus dem Pol­nischen ins Polnische, worüber wir alle, ohne Wor­te wechseln zu können, lachen, das Irren macht die Stimmung menschlich. Wir bestellen, beliebig auf die Karte zeigend, es kommt ausgezeichneter Rindsbraten, die Polen am Tisch, stolz darauf, dass er uns schmeckt, und dass wir die Teller kahl essen.

Beim Verlassen des Lokals laufen wir in eine Reklame hinein, aber nicht etwa in eine für Strümpfe oder Nivea, sondern für das archäolo­gische Museum, das durch ein Steinbeil hinter Glas teils für Bildung wirbt, teils für die Tatsa­che, dass der Boden von Breslau immer schon slawisch gewesen sei. In meiner frühesten Jugend war er das gewiss nicht gewesen, und mir eine Vergangenheit vorzustellen, oder um eine zuzuge­ben, die archaischer wäre als die meiner frühsten Jugend, dazu bin ich nun viel zu müde. Schluk- ken Schlafpillen und schlafen wie Steine bis neun. Versäumen also den um halb acht in der Strassen- bahn Nummer- vier zur Schule vorbeifahrenden Knaben meines Namens. Der wird auch ohm uns ankommen.

ne Autorität, wie Baruch Kurzweil, in weiser Über­legung ein solches Urteil fällt, so wird er natürlich nicht leichtfertig gesprochen haben. Und es scheint auch wirklich, dass heute noch, 75 Jahre nach dem Tode von Graetz, hundertzehn Jahre nach Beginn seiner Geschichtsforschung, sein Werk nicht übertroffen ist. Dieses und jenes mag falsch gesehen sein, in vielen Fällen ist die wissenschaft­liche Erkenntnis fortgeschritten, was auch bei den späteren Auflagen seines Werkes berücksichtigt wurde; man kann heute mit Karten und Diagram­men die historischen Tatsachen dem Leser ver­ständlicher machen, aber trotz alledem ist und bleibt auch heute dergrosse Graetz und daher auch der volkstümlichekleine Graetz in drei Bänden in seiner flüssigen Sprache und in seiner wissenschaftlichen Genauigkeit ein lebendiges, nicht überholtes Werk. Daher auch die Überset­zung in so viele Sprachen, nicht nur selbstver­ständlich ins Hebräische, auch ins Jiddische, vor Allem ins Englische, wodurch der Zugang zu den anglosächsischen Ländern geschaffen wurde. Selbstverständlich hat die Stadt Tel-Aviv den For­scher durch eine Zwi Graetzstrasse geehrt, und auch dem Gelehrten, der sein Werk ins Hebräische übersetzte, Saul Pinchas Rabinowitz wurde eine Strasse gewidmet. Nur weiss der Mann auf der Strasse nichts über die Bedeutung des Namens, da sie gewöhnlich Scheferstrasse genannt wird, als Abkürzung des Namens SCH. P. R. An der Stätte seines langjährigen Wirkens in Breslau wurde eine Loge Heinrich Graetz-Loge genannt.

Rabbiner Dr. Neufeld

SUCHANZEIGEN

Wer weiss etwas über MARIE KLIMPKE geb. Hafstein, geb. 10.8.1922 in Breslau, wurde etwa 1941 in Breslau, Nikolaistr. 6 als Jüdin verhaftet und in ein unbekanntes K.Z. Lager eingewiesen. Sie ist nicht mehr zurückgekehrt. Über ihr Schicksal ist ausser der Deportation nichts bekannt. Alle Ange­hörigen sind gestorben und der Ehemann Klimpke war s.Zt. schon im K.Z. Lager.

Mitteilungen an Rechtsanwälte M. Vollberg, Dr. HafnerK. Wurth, 68 Mannheim, S. 1,8 (Haus Gold Pfeil).

Zeugen gesucht für die Reichsversicherung

HERMANN SUSSMANN aus Schildberg in Po­sen, im Jahre 1911 als Reisender bei der Firma J. J. Pinczower, Lederhandlung in Liegnitz (Schle­sien) beschäftigt.

JOSEF SCHEYE 1911 als Lehrling bei der Fa. J. J. Pinczower, Lederhandlung in Liegnitz (Schle­sien) beschäftigt.

Angaben bitte über obige Herren oder falls je­mand ihre Adressen kennt an Daniel Löwenstein, Tel-Aviv, Israel 18 c, King Georgestr. Unkosten werden vergütet.

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Aus der Kunitz Malberg, später Lutherschule in Breslau werden folgende frühere Schülerinnen gesucht: FRIEDEL u. LOTTE ROSNER (Vater hatte ein grosses Möbelgeschäft am Sonnenplatz) Alice Mottek, Gartenstr. und Ilse Morawski, Gu- tenbergstr. Ebenso andere frühere Schülerinnen. Bitte sich zu wenden an Margarete Herrmann, Oberschul-Lehrerin a.d. Lutherschule, Breslau jetzt 857 Pegnitz, Bayern, Ambergerstr. 12 West-Deutsch­land.

ERNST SALZMANN geb. 1913 absolvierte den Zwinger im Jahre 1932. GÜNTHER HOLZ­MANN geb. 1913 ebenfalls im Zwingergymnasium. Nachrichten erbeten an Meir Falk, Tel-Aviv, Is­rael, Sokolowstr. 12.

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BERTA BRUNWASSER, Breslau, Zimmerstr. 6, früher Victoriastr. 33, hatte einen Handel von Ga­lanterie und Toilettensachen an Privatkunden. Sie bestritt damit ihren Lebensunterhalt für sich und ihre beiden Söhne. Mitteilungen an URO, Tel-Aviv, Grusenbergstrasse 18, Akt. 1000/22 623.

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RUTH STEINER geb. am 2. Juni 1924 in Breslau, Matthiastr. 49, letzte Adresse Nicolaistadtgraben 62 oder 63. Soll in Auschwitz gewesen sein. Mittei­lungen erbeten an Kitty Beil, Beer Schewa, Israel P.O.B. 4011.

Wer weiss etwas über Günther Tuch früher Breslau, voraussichtlich nach Südafrika ausgewan­dert. Auskunft an Harry Hans u. Helga Korn, 1494 30th Ave, San Francisco, Calif. 94122, USA.

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Wer kennt die Adresse von KÄTHE BALL ge­borene Littwitz, soll in Israel wohnen. Schwester von Günther Littwitz. Nachricht erbeten an: Bet­ty F. Littwitz, Rua Sao Vicente de Paula 401 Apt. 73, Sao Paulo Brasilien.

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Gesucht wird die Adresse von Fräulein MAR­KUS, Fotografin in Breslau, soll in Tel-Aviv le­ben. Bitte zu antworten an Frau Else Gerling, Jerusalem, Rechow Saadia Gaon 18.

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