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Gegründet von Dr. Wilhelm (Seev) Freyhan V'f
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MITTEILUNGEN No. 51
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DES VERBANDES EHEMALIGER BRESLAUER UND SCHLESIER
IN ISRAEL E. V.
VORSTAND: Dr. Richard Prager (Vorsitzender)
Edith Benda, Mosche Goldstein, Arie Gradenwitz, Lotte Lewald, Erich Lewin, Max Lopatka, H. Sachs
BRIEFADRESSE: Erich Lewin, 52235 Ramat'Gan (Ramat-Chen), Mazadastr. 27 Telefon 749754
ANSPRACHE IN DER PAULSKIRCHE
Der Ort, an dem ich zu Ihnen spreche und der Zeitpunkt, der diese Veranstaltung bestimmt hat. haben für mich als einen in Deutschland geborenen und aufgewachsenen, Jedoch seit 1936 in Israel lebenden gläubigen Juden symbolische Bedeutung. An dieser Stelle hat im Jahre 1848 der Jude Gabriel Riesser, der — nach seinen eigenen Worten — ,,deutsch denkt und fühlt”, seiner Hoffnung Ausdruck gegeben, dass es für den jüdischen „Volksstamm” in Deutschland keine “Ausnahmegesetze” mehr geben werde. Heute stehe ich, nahezu 140 Jahre später, vor 50 Jahren unter “Ausnahmegesetz” gestellt, an eben dieser Stelle als freier Bür. ger eines eigenen Staates, um mit Ihnen der Niederlage des sogen. ‘“Dritten Reiches” und der Befreiung der Überlebenden der unmenschlichen Konzentrationslager zu gedenken.
Als vor nahezu 50 Jahren die “Nürnberger Gesetze” die deutschen Juden zu “Staatsangehöriger. ”, im Unterschied zu den arischen “Reichsbürgern” degradierten, verfasste Leo Baeck, geistiger Führer des entrechteten deutschen Judentums, ein Gebet, dessen Schlussworte lauten: “Trauer und Schmerz erfüllen uns.
Schweigend, durch Augenblicke des Schweigens vor unserem Gotte, wollen wir dem, was unsere Seele erfüllt, Ausdruck geben. Eindringlicher als alle Worte es vermöchten, wird diese schweigende Andacht sprechen.”
Wäre es nicht auch heute angebracht, in dieser Stunde zu schweigen, damit ein jeder von uns, welchem Volk und welchem Glauben er auch angehören mag, seinen eigenen Gefühlen nachgehe und seinen eigenen Gedanken nachhänge.
Denn da ein jeder von uns den Tag der Befreiung anders erlebt hat, muss das Gedenken und das Sich-Besinnen für jeden von uns anderen Sinn und andere Bedeutung haben.
Da wir aber wissen .dass man um uns herum vielfach das Geschehene vergessen und verdrängen will, sind wir verpflichtet, zu reden, weil die, die reden sollten und sollen, geschwiegen haben und auch heute noch schweigen. Vielleicht hatte die Bibel dieses Vergessen-wollen und Verschweigen im Sinn, wenn sie uns mahnt: “Gedenke — vergiss nicht!” Unsere Weisen sagen: “Gedenke im Herzen, bewahre es aber nicht nur für dich, teile es anderen mit, damit auch die Nachgeborenen hören, was Dir und den Deinen widerfahren ist”. Aus dem Wissen um die Vergangenheit aber sollen die Nachkommen eine bessere Gegenwart und Zukunft gestalten.
Wie erlebte ich jene Maitage vor 40 Jahren?
(Frankfurt) am 9. Mai 1985
Gehalten von Professor Dr. JOSE'PH WALK Jerusalem
Ich wohnte in einer kleinen landwirtschaftlichen Siedlung in dem damaligen englischen Mandatsland Palästina. Am Abend des 7. Mai, einem Montag, kam die Nachricht vom Ende des Krieges. Mein Tagebuch verzeichnet: “Frieden (doppelt unterstrichen!). Deuschland hat bedingungslos kapituliert” und gleich danach:: “Für uns Juden ist der Krieg nicht beendet und das ist das Allertraurigste. Nicht nur um der Opfer, sondern auch um der ungewissen Zukunft willen.”
Da sass ich also auf einer Kiste vor meiner Holzbaracke und weinte. Aus Angst vor der grausamen, in ihrem vollen Ausmass noch verhüllten Wahrheit über das Schicksal unserer verschollenen Angehörigen, aus Sorge um das Los der wenigen Geretteten und wegen unserer eigenen bedrohten Lage angesichts der feindlichen arabischen Umwelt und der Gleichgültigkeit der alliierten Sieger.
Schon am nächsten Tag erhielten wir die Gewissheit, dass mein Schwiegervater (meine Eltern waren zum Glück noch 1939 ins Land gekommen), ein deutscher Rabbiner, der — nach Holland geflüchtet — nicht, untertauchen wollte, mit unbekanntem Ziel nach Osten deportiert worden sei. Listen aus Bergen-Belsen, wo sich meine ältere Schwägerin befand, lagen noch nicht vor (später stellte sich heraus, dass sie und ihre zwei kleinen Söhne von den Engländern befreit worden waren.) Erst zwei Monate später erreichte uns ein Brief meiner jüngeren Schwägerin aus Schweden und etwa zur gleichen Zeit — ohne dass sie voneinander wussten — eine Mitteilung des Roten Kreuzes, dass ihr Verlobter, beide zeitweise Häftlinge in Auschwitz, am Leben sei. Monate später mussten sie sich auf einem illegalen Transport ins Land stehlen. Damals kam mir in verstärktem Mass zum Bewusstsein, dass wir nur im eigenen Staat zu äusserer und innerer Freiheit gelangen könnten, damit sich Auschwitz nicht wiederhole. Im selben Jahr (1945) starb in London der bedeutendste Kommentator des 1. Buch Moses, der aus Deutschland emigrierte Rabbiner Benno Jacob. Als ich ihm in einer hebräischen Zeitung einen Nachruf widmen wollte, wurde ich mit der Frage der moralischen Beurteilung und juristischen Verurteilung Deutschlands konfrontiert. Benno Jacob hatte uns die Augen für das richtige Verständnis
des Schicksals Sodoms geöffnet, jener Stadt, welche das Urbild eines auf Unrecht aufgebauten Gemeinwesens darstellt. Eine solche, alles Fremde und alle Fremden verabscheuende Gemeinschaft kann auf die Dauer vor GTT nicht bestehen, ihre ganze Daseinsberechtigung ist in Frage gestellt. GTT schickt daher Boten aus, um vor dem endgültigen himmlischen Urteil die Stadt einer Prüfung zu unterziehen. Wenn sich in Sodom zehn Gerechte — nach jüdischer Auffassung die Min- deszahl einer Gemeinde — befinden, besteht die Aussicht, dass sich um diesen Kern eine neue, bessere Gemeinschaft bilden kann, so soll die Stadt als solche weierbestehen. Denn dass die Frevler ihre Strafe erleiden und die Gerechten verschont werden müssen, steht für Abraham fest, als er sich anschickt, mit GTT um die Rettung Sodoms zu ringen.
Die Einwohner Sodoms haben die Prüfung nicht bestanden und damit ihr Schicksal besiegelt, Sodom ist der Zerstörung preisgegegeben. Weder fanden sich in diesem Unstaat zehn Gerechte, die den Mut aufbrachten, gegen das an jedem Fremden begangene Unrecht öffentlich aufzutreten, noch ermöglichte das dortige Regime Solidarität mit Verfolgten. Es geht also einerseits um die fehlende “Zivilcourage”, andererseits um eine Staatsform, die jede freie Meinungsäusserung unterdrückt.
Hier also fand ich die Antwort auf die bedrückende Frage, wie Deutschland und die Deutschen nach dem Zusammenbruch zu beurteilen seien. Die NSVerbrecher und ihre Mithelfer muss die gerechte Strafe treffen, die unschuldig gebliebenen Deutschen sollten verschont werden. Wie aber stand es um die “zehn Gerechten”, die den moralischen Wiederaufbau gewährleisten und ein “anderes Deutschland” errichten sollen?
Das ist die Frage, die auch Sie, die Sie grösstenteils einer neuen Generation angehören, heute bewegt. Gewiss, die eigentliche Bewährung liegt noch vor Ihnen, denn den Beweis für eine wahrhafte Demokratie können Sie erst antreten, wenn Deutschland — wovor Sie GTT behüte — wieder einmal in schwere wirschaftliche und politische Bedrängnis geraten sollte. Aber ich darf Ihnen, 40 Jahre nach dem Ende des Unrechtsstaates — eine Zahl, die uns an das Aussterben des Wüsten, geschlechtes erinnert — als Jude und Israeli sagen, dass zugleich mit den sich von Jahr zu Jahr mehrenden Schreckensnachrichten der von den Nazis verübten Verbrechen, auch die von Deut-
(Fortsetzung auf Seite 2)