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Das jüdische KLatt

Nr. 1.8.

heit und Selbstherrlichkeit der individuellen Vernunft wenig Ver­ständnis gehabt. Und wenn sie gesehen hätten, wie in unserem Jahrhundert der menschliche Geist sich vergebens bemühte, die Moral selbst, also die Beziehungen zwischen Mensch und Neben­mensch, auf irdische Grundlage zu stellen, so hätte sie dies in ihrer Ablehnung des Versuches, unsere Lebensanschauung auf unsere persönliche Intelligenz zu gründen, nur noch bestärkt. Mit mehr Scharfsinn als unsere Toleranzschwärmer hat ein sonst sehr un­jüdischer jüdischer Schriftsteller, hat H. Heine jenes Unterfangen charakterisiert.Die Moral", meint er,die nichts anderes ist, als in Sitten übergegangene Religion, hat alle ihre Lebens­wurzeln verloren und wankt jetzt mißmutig und welk an den dürren Stäben der Vernunft, die man an die Stelle der Religion aufgepflanzt hat. Aber nicht einmal diese armselig wurzellose, nur auf Vernunft gestützte Moral wird mehr gehörig respektiert, und die Gesellschaft huldigt nur der Konvenienz, welche nichts anderes ist, als der Schein der Moral, die Vermeidung alles dessen, was einen öffentlichen Skandal hervorbringen kann." Dieses Fiasko der menschlichen Weisheit in allen Weltanschauungsfragen macht uns reif für die zweite große Lehre, die uns R. Jose aus Waji- krah schöpfen läßt:Ueberall, wo das WortOpfer" erwähnt ist, wird es mit dem unaussprechlichen Gottesnamen verknüpft." Denn Elokim wäre vieldeutig, könnte als eine Vereinigung der höheren Wesen, oder der Kräfte der Natur aufgefaßt werden. Und du sollst nicht den Gebilden deiner eigenen Phantasie Opfer bringen, sondern Ihm allein, von dem es heißt:Mich sieht kein sterblich Auge." Daß du darum ihn und den Zweck seiner Welt und deine eigene Bestimmung in dieser Welt nicht vermessen zu ergrübeln suchst, sondern das erforschest, was Er uns auf diese Fragen geantwortet! Denn die Tat allein tut's eben nicht. Würde der Diener Gottes die Opfer genau allen Vorschriften entsprechend darbringen und hätte er selbst die Absicht, Gott wohlgefällig zu sein, nur er glaubte nicht, daß Gott diese Opfer befohlen, so wäre sein Dienst eitel und nichtig (yy v'pj nirijD) Gesetzes- religion aber kein Judentum.

England.

Drei Gesetzentwürfe, die für die englische Judenheitwon schwer­wiegender Bedeutung werden können, liegen augenblicklich vor dem Parlament. Das ist zunächst das Gesetz für eine humane Schlachtung der Tiere, das in zweiter Lesung am 8. Mai dieses Jahres zur Verhandlung kommen soll. Der Entwurf ver­langt die Betäubung des Tieres vor der Schlachtung und ist daher mit einem Schächtverbot gleichbedeutend. Obgleich die Verfechter dieses Tierschutzes alle Anstrengungen machen, um das Gesetz durchzubringen, ist doch zu erwarten, daß das englische Parla­ment nicht ein Gesetz gutheißen wird, das unter der Flagge des Tierschutzes die englische Iudenheit in ihrer Religionsübung aufs äußerste bedrängen würde. Ein anderer Gesetzentwurf, der zur Debatte steht, ist das Gesetz über die Sonntagsruhe. Den Juden soll zwar gestattet werden, am Sonntag Vormittag bis 11 Uhr die Läden offen zu halten, jedoch mit der Einschränkung, daß nur an jüdische Kunden verkauft wird. Da der Verkäufer nicht erst nach dem Bekenntnis des Käufers fragen kann, würde die Aufnahme einer derartigen gesetzlichen Bestimmung den Juden zum vollständigen Ladenschluß am Sonntag zwingen. Für den, der auch am Sabbat schließt, wäre eine derartige gesetzliche Neue­

rung natürlich eine außerordentlich schwere Schädigung des Er­werbs. Da auch der schlechten Dinge drei sein sollen, wird noch ein drittes Gesetz vorgelegt, das ebenfalls die Juden treffen würde, das Wahlgesetz. Danach sollen die Parlamentswahlen ausschließ­lich am Samstag stattfinden. Ein solches Gesetz würde den sabbattreuen Juden einfach von der Wahl ausschließen.

Dänemark.

Kopenhagen. Die Juden Dänemarks rüsten sich, die Hun­dertjahrfeier ihrer Emanzipation feierlich zu be­gehen. Am 29. März d. I. werden es nämlich 100 Jahre, feit ihnen durch ein Dekret des Königs Friedrich VI. die Bürgerrechte verliehen worden sind. Aus diesem Anlaß gibt die Dänemark- Loge des Ordens B'nei B'rith eine Festschrift heraus, und die jüdische Gemeinde in Kopenhagen veranstaltet eine Gedenkfeier in der Synagoge mit anschließendem Bankett. Es sollen auch wohltätige Stiftungen zur Erinnerung an den denkwürdigen Tag errichtet werden.

Italien.

Am 25. Februar war in Rom der 3. Kongreß der jüdischen Jugend in Rom versammelt. Die Eröffnungsansprache hielt der junge Rabbiner von Rom, Sacudote. Darauf hielt Anselm Colombo einen zionistisch gefärbten Vortrag über die jüdischen Gemeinden. Mehrere Redner sprachen sich in gleichem Sinne aus. Angela Sullam brachte das wenig judenfreundliche Ver­halten der italienischen Behörden in Tripolitanien zur Sprache. Am zweiten Tage hielt Heinrich Eisenmann-Rom einen Vortrag über Agudas Jisroel. Wie vorauszusehen war, fand dieser Vor­trag nicht das richtige Verständnis, es entspann sich eine lebhafte, stellenweise scharfe Diskussion, die resultatlos verlief. Am Nach­mittag dieses Tages hielt Dr. Krimkin-Rom ein zionistisches Referat über: Die aktuellen Fragen des Judentums, das zu einer wirren Diskussion führte. Positive Resultate hat der Jugendtag nicht gebracht. Doch ist, wie die jüdischen Dinge in Italien ein­mal liegen, schon das Zustandekommen eines solchen Jugendtages in Italien ein ungewöhnliches Ereignis.

Rußland.

In Nizza starb plötzlich am 11. März der Geheime Regie­rungsrat im russischen Justizministerium, Jakob Holpern. Holpern hatte in seiner Jugend mit glänzendem Erfolge den Tal­mud studiert, kam dann im Alter von 16 Jahren an die Uni­versität in Petersburg, wo es ihm gelang, feine juristischen Stu­dien zu absolvieren. Bald trat er in die Verwaltungskarriere ein, was in Rußland für einen Juden ein ungewöhnliches Er­eignis ersten Ranges ist. Hätte er sich, wie andere, dazu herbei­gelassen, zum russisch-orthodoxen Glauben überzutreten, so wäre ihm wohl das Justizministerium sicher gewesen. Holpern aber blieb sich und seinem Volke treu. Dagegen hat er mit seiner Mit­arbeit nie gekargt, wenn es galt, der Iudenheit und dem Juden­tum in Rußland Dienste zu leisten. Er genoß bei seinen Brüdern in Rußland das höchste Vertrauen, und war Präsident der beiden großen philantropischen Gesellschaften unter den Juden Rußlands, der.Gesellschaft für Verbreitung der Wissenschaft und der Gesell­schaft für die Verbreitung von Handwerk und Ackerbau unter den Juden. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Nizza be­stattet.

Rumänien.

Die unverbesserlichen Optimisten, die trotz allem noch eine Verbesserung der Lage der Juden von der liberalen Partei er­warteten, die mit einem selbst in Rumänien ungewöhnlichen