JÜDISCHES GEMEINDEBLATT
FÜR DIE NORD-RHEINPROVINZ UND WESTFALEN
NUMMER 6 25. JUNI 1946 1. JAHRGANG
Betrachtungen
zum täglichen Morgengebet
Dem Glaubensbekenntnis „Jigdal“ folgt das Lied „Adaun Aulom“. Sein unbekannter Dichter sie'ht die Ewigkeit Gottes in einem Bilde von besonderer Prägung.
„Herr der Welt, der schon herrschte, bevor ein Wesen geschaffen. Als das All geschaffen wurde, da nannte man Dich Herrscher. Und wenn das All zerfällt, wirst Du in einsamer Größe herrschen.“
Es gibt kein Gedicht, das die Ewigkeit Gottes so eindeutig der Vergänglichkeit der Welt gegenüberstellt wie dieses. Die Bitten des Morgengebets werden durch die Betrachtung eingeleitet, daß wir nicht auf unsere Verdienste vertrauen, sondern nur von Gottes Barmherzigkeit unser Heil erwarten. Dem folgt eine pessimistische Betrachtung.
„Was sind wir? Was ist unser Leben? Was sind unsere Tugenden? Was ist unsere Kraft? Sind nicht alle Helden vor Dir wie ein Nichts und die Männer von Namen, als wären sie nie gewesen und die Weisen wie ohne Wissen, und die Einsichtigen wie ohne Kenntnis? Denn die Menge ihrer Taten sind nur Tand und des Menschen Vorzug vor dem Tiere ist nichts, denn alles ist eitel.“ -
Aber dann heißt es weiter, daß das Verdienst unserer Väter es uns gestattet, vor Gott zu erscheinen und zu ihm zu beten.
Weiterhin enthält das Morgengebet eine Reihe von Psalmen. Die Reihe wird durch ein Gebet von besonderer Prägung unterbrochen. Dort wird Gott als der Herrscher der Welt gepriesen, der im Himmel seinen Thron gegründet hat. Der Ewige zerstört den Ratschluß der Völker, er vereitelt die Pläne der Nationen. Damit wird der gleiche Gedanke ausgesprochen, den schon der große Prophet Jesaias entwickelt hatte: die gesamte Weltgeschichte ist das Ergebnis des göttlichen Weltenplanes, den alle Völker verwirklichen müssen, dem kein Volk sich entziehen kann. Der göttliche Weltenplan ist stärker als alle Pläne der Nationen. Aber auch im Herzen des Menschen entstehen vielerlei Pläne, die nicht Bestand haben, denn Bestand hat nur der ewig bleibende Ratschluß Gottes. Daraus schöpfen wir denn auch die Zuversicht, daß Gott uns, sein Volk, niemals verlassen wird. Eine wunderbare Betrachtung enthält der spätere Teil des Morgengebetes. „Er spendet Licht der Erde und ihren Bewohnern in Barmherzigkeit, und in seiner Güte erneuert er täglich sein Werk der Schöpfung. Gott, wie viel sind Deine Werke! Alle hast Du mit Weisheit getan, voll ist die Erde von Deinen Gütern. Gott schuf in großer Weisheit die Strahlen der Sonne und bildete sie in Güte zur Ehre seines Namens.“ So wie Gott jeden Morgen neues Licht der Erde gibt, so möge er gemäß unserem Gebet auch über Zion ein neues Licht strahlen lassen und wir alle mögen dieses Lichtes teilhaftig werden.
Dann folgt die ewig bedeutsame Mahnung des Schmah- Gebetes:
„Die Worte, die ich Dir heute gebiete, sollen in Deinem Herzen sein, Du sollst sie Deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn Du sitzest in Deinem Hause, wenn Du auf dem Wege gehest, wenn Du Dich niederlegst und wenn Du aufstehst.“
Der Höhepunkt des Morgengebetes ist das Achtzehngebet, die Schemoneesre. An ihr zeigt sich, daß die Gebete eines Volkes das Spiegelbild der trüben Stunden seiner Ge
schichte sind. Die katholische Kirche kennt die Zeit der leidenden Kirche, die Zeit der kämpfenden Kirche und die Zeit der siegreichen Kirche. Die Geschichte des jüdischen Volkes kennt nur wenig Siege, sie kennt dafür umso mehr Kämpfe und Leiden. Die Zeit der Leiden ist besonders reich an Gebeten. In Zeiten des Leidens bedarf der Mensch besonders des Trostes und der Aufrichtung, dann steht ihm Gott näher als in Zeiten des Glückes. Betrachten wir von diesem Standpunkt aus einmal die vierte und die folgenden Bitten des Achtzehngebetes.
Der im Kampfe um sein Leben stehende Mensch bedarf vor allem der Überlegung und der Klugheit. Deshalb bitten wir Gott um Erkenntnis, Vernunft und um Klugheit — das waren die einzigen Waffen, die dem Juden im Kampf der Jahrhunderte immer zur Verfügung standen, die ihn nie verlassen haben. Diese Klugheit verdanken wir der niemals auf gegebenen geistigen Tätigkeit, der Beschäftigung mit der Wissenschaft, die gleichbedeutend war mit der Tora. Daraus ergibt sich die folgende Bitte: „Führe uns zurück, o Vater, zu Deiner Lehre.“
Der göttlichen Lehre zeigen wir uns nur dann würdig, wenn wir der Sünde entsagt haben. Darum bitten wir als nächste Bitte: „Vergib uns, o Vater, denn wir haben gesündigt, verzeih uns, o König, wenn wir gefrevelt haben.“ Wir sind uns darüber klar, daß wir als kleine Schar verloren sind, wenn nicht Gott unsere Sache führt: „0 Gott, schaue unser Elend und streite unseren Streit, und erlöse uns bald um Deines Namens willen!“
Im gleichen Sinne ist die folgende Bitte zu verstehen: „Heile uns, Ewiger, dann sind wir geheilt, hilf uns, dann wird uns geholfen, denn Du bist unser Ruhm.“
Das in der Zerstreuung lebende Volk Israel kann nur dann gedeihen, wenn es den Völkern gut geht, in dessen Mitte es wohnt. Wir haben erlebt, daß die Not der Allgemeinheit, die Not einer Weltkrise, zu einer gewaltigen Steigerung des Judenhasses geführt hat, die große Not der Welt hat zu größerer Not der Juden geführt. Darum beten wir: „Segne, o Gott, dieses Jahr und alle Arten seines Ertrages zum Guten und gib Segen der ganzen Fläche der Erde!“
Die Zerstreuung unseres Volkes über die ganze Erde ist eine Quelle unserer Verfolgungen. Darum beten wir, daß Gott das große Schofar zu unserer Befreiung blasen möge, zu sammeln alle unsere Vertriebenen und uns zu vereinigen aus allen vier Enden der Erde,
Wir haben in den zwölf Jahren des Dritten Reiches besonders darunter gelitten, daß die Gerichte unserer Not kein Verständnis entgegenbrachten, daß sie ohne Mitleid uns gegenüberstanden und uns im Gegenteil mit besonderer Härte behandelten. Ähnliche Erfahrungen hatten schon unsere Väter. Deshalb beteten sie darum, daß Gott unsere Richter wie ehemals und unsere Räte wie früher einsetzen möge, und daß uns dadurch Kummer und Leid erspart bleibe.
Die schlimmsten Feinde jeder kämpfenden Gemeinschaft sind die Verräter und die Abtrünnigen. Um der Gemeinschaft willen müssen sie vernichtet und unschädlich gemacht werden. Darum haben unsere Vorfahren gebetet, daß diese Bösewichter bald in ihren Tagen vertilgt werden mögen.
Ganz anders ist die Bitte, die den Gerechten, den Frommen, den Ältesten, den Schriftgelehrten und — last not least — den gerechten Fremden gewidmet ist. Sie sollen das göttliche Erbarmen finden, ihnen soll guter Lohn zuteil werden.
29