FÜR DIE NORD-RHEINPROVINrUND WESTFALEN

NUMMER 15 .. . .9. NOVEMBER 1946 .1. JAHRGANG

9. November 1938!

Die Erinnerung an diesen Tag läßt vor dem geistigen Auge eines jeden deutschen Menschen, der sich auch nur einen Rest von Menschlichkeit und Achtung vor menschlicher Würde bewahrt hat, eins der grauenhaftesten Bilder aus der Zeit der Nazi-Diktatur aufsteigeri.

Im nächtlichen Dunkel stürzte sich damals dasbis aufs 'tiefste empörte deutsche Volk auf eine aus dem Schlaf auf­geschreckte, wehrlose, vorher bereits rechtlos gemachte Minderheit des deutschen Volkes. Unter Alkohol gesetzte SS- und SA-Banditen fallen in ganz Deutschland auf Vor­herigen Befehl, nach einem bis ins Einzelne genau ausge­arbeiteten Plan der höchsten Kommartdostellen der Gestapo, SS ) und $A wie ' das Im Nürnberger Prozeß bewiesen wurdespontan über die Juden, über arme uhd be­güterte Juden, ihre Häuser, ihre Geschäfte, ihre Bethäuser her. Krachend stürzen Möbel und Gegenstände aller Art aus den Fenstern und die Scherben und Bruchstücke der jüdi- . sehen Haushalte bedecken allenthalben das Straßenpflaster. | Plündernde Hörden rauben und zerstören Warenlager und Einrichtungen jüdischer Geschäfte, ohne daß die Polizei ein­greift. Flammen schlagen aus den Synagogen und Bet­hausern . auf und beleuchten flackernd die infernalische Szene, während die Feuerwehr tatenlos zusieht.

Zu Tausenden verlassen die Juden in dieser.. Schreckens- nacht ihre Wohnungen. Die meisten aber bleiben, gebannt von dem grauenhaften Schauspiel, erstarrt und reaktiohs- unfähig vor so viel menschlicher Bestialität und lassen wil­lenlos Räubereien, Mißhandlungen und Folterungen über sich, ergehen. Zehntausende wurden anschließend in Schutz­haft genommen oder in die Konzentrationslager verschleppt. Wie konnte es geschehen,, daß deutsche Menschen sidp zu solchen Schandtaten hergaben? Es gab in Deutschland be­reits v«r 1933 einen organisierten Antisemitismus. Die breite Masse dfes deutschen Volkes bljeb aber dem Antise­mitismus gegenüber immun. Der Nationalsozialismus erst hat den Kämpf gegen das Judentum auf einen Höhepunkt gebracht. Er hat dep Rassenkampf gepredigt und bescherte uns die.strahlende Lichtfigur, des nordischen, , arischen Edelmenschen, den alleinigenSchöpfer, aller wahren Kul­tur, aller menschlichen Fortschritte* neben demminder­wertigen, negroiden, jüdischen oder verjudeten Untermen­schen, dessen Unterdrückung und Vernichtung im Inter­esse der Erhaltung des deutschen Volkstums nicht nur als erforderlich, sondern auch als geboten und gerechtfertigt erklärt .wurde.Der Jude rhuß verbrannt werden das war nicht nur ein agitatorisches Schlagwort, sondern die politische Zielsetzung des Nationalsozialismus. Und leider hat die nationalsozialistische Rassenhetze tatsächlich * breite Kreise de^ deutschen Volkes erfaßt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß eine gewisse Zahl deutscher Menschen die Ereignisse des 9. November 1938 verurteilte.

Wer aber weiß heute noch im deutschen Volke, was diesen Greueltaten des 9. November 1938 voraufging? Zur Not er­innern sich einige noch daran, daß der Auftakt die Er­schießung des deutschen Gesandtschaftssekretärs vom Rath in Paris durch einen gewissen Grünspan war. Es handelt sich dabei nicht wie die verlogene Hitler-Propaganda hinausschrie um einAttentat des Weltjudentums. Wer war dieser Grünspan? Ein blutjunger polnischer Jude, der in Frankreich vorübergehend Asyl gefunden hatte. Was hat die Tat dieses jungen, unreifen, unausgeglichenen Menschen ausgelöst? Im Oktober 1938 wenige Wochen Vor dem Attentat war bereits schon einmal eine nächtliche Poli­zeiaktion gegen Juden durchgeführt worden. Juden polni­scher Staatsangehörigkeit, seit langem in Deutschland an­sässig, wurden nachts aus den Betten herausgehölt und unter

Zurücklassung aller ihrer Habe nach Polen abtrahsportiert. Die damalige reaktionäre, antisemitische polnische Regie­rung aufs engste mit Hitler verbunden sperrte kurzer Hand die Landesgrenzen vor dem zurückflutenden Ström jüdischer Landsleute. Eingeengt auf einen schmalen Strei­fen Niemandsland bei Zbonschyn, hausten nun diese Un­glücklichen in primitiven Notunterkünften oder im* Freien bei mangelhafter Ernährung, Alte und Junge, Mäffner, Frauen und Kinder,* Kranke und Gesunde, vön Freunden und Familien abgeschnitten, dem Unbill der Witterung aus­gesetzt und ohne jede Hilfe. Unter diesen Ausgesperrten und Verlassenen befanden sich die Eltern des jungen Grün- spän. Er versucht, die Vermittlung der deutschen Botschaft in Paris zu ihrer Rettung anzurufen. Dabei stieß er .auf eisige Ablehnung v seitens des Gesandtschaftssekretärs vom Rath. Die ganze Erbitterung und Verzweiflung eines jungen Menschen, der das Bild seiner hungernden, und verelendeten Eltern vor Augen hatte, entlud Siel? ih dieser Verzweiflungs­tat. Der Schuß auf den Gesandtschaftssekretär vom Rath, der die ganze zivilisierte Welt aufhorchen ließ, hätte äuch das deutsche Vpik auf wecken und ihm Aiilaß zur Besinnung und zur Abkehr werden müssen. Das Gegenteil trat ein.

Oie Verscheuchte

Else Lasker-Schüler (gest.^1945)

Es ist der Tag im Nebel völlig eingehüllt.

Entseelt begegnen alle Welten sich

Kaum hingezeichnet wie auf einem Schattenbild.

< .

Wie lange war kein Herz zu meinem mild ...

Die Welt erkaltete, der Mensch verblich. '

Komm, bete mit mir denn Gott tröstet mich.

Wo weilt der Odem, der aus meinem Leben wich?

Ich streife heimatlos zusammen mit dem Wild Durch bleiche Zeiten träumend - ja ich liebte dich . .

Wo soll ich hin, wenn kalt der Nordsturm brüllt?

Die scheuen Tiere aus| der Landschaft wagen sich . Und ich vor deine Tür, «in Bündel Wegerich.

Bald haben Tränen alle Himmel weggespült,

An deren Kelchen Dichter ihren Durst gestillt Auch du lind ich.

liiiui||iiiiii||ii'iii||niuiiiiiiiii||iiiiii||iAni||iiiii{||itinq|iiiiii||iitiit||iiiui||iiiiii||iiiiit||iiuii||iuiii||ifMii||iiiiii||iiiiii||iiiiii]

Der 9. November 1938 wurde inszeniert. Von diesem Tage ab wurde Deutschland zu einer Hölle für seine jüdischen Staatsbürger. Diesem Tag der Schände für unser ganzes Volk folgte die zwangsweise Eingliederung der Juden in den Ar­beitseinsatz, ihre Deportation und das Grauen der Gas­kammern und der Vernichtungslager.'

Im Gesamtgebiet des Landes Nordrhein-Westfalen befinden sich heute nur hoch wenige überlebende Juderi. In der Nordrheinprovinz sind es nur noch 2494 Personen, darunter 53 Kinder unter 16 Jahren. Alle anderen Juden wurden er­mordet, vergast und vernichtet. Diese wenigen Geretteten, die wie durch ein Wunder den Schrecken der Vernichtungs­lager entronnen sind, unter welchen Umständen leben sie heute,* 18 Monate nach dem Zusammenbruch des National­sozialismus? Nur wenigen unter ihnen ist es gelungen, sich eine gesunde Existenzbasis zu verschaffen, die schweren körperlichen Schädigungen, die sie erlitten haben, in etwa